: Obszönitäten auf dem Altar
Ein Surrealist in der Renaissance-Ära: Der Maler und Moralist Hieronymus Bosch übte einen überragenden Einfluss aus, selbst auf die Kunst der Moderne. Eine große Ausstellung in Rotterdam präsentiert nun einen umfangreichen Überblick über sein Wirken – mit zahlreichen Originalen und Referenzwerken
von STEFAN KOLDEHOFF
„Ich weiß, welche Fragen Sie stellen werden“, sagt Chris Dercon und grinst in das gute Dutzend Kameras, das auf ihn gerichtet ist. „Sie wollen wissen: Wie teuer ist die Ausstellung? Und ich werde sie Ihnen beantworten: Sie ist sehr, sehr teuer. Und haben Sie alle Bilder bekommen, die Sie zeigen wollten? Ja, das haben wir.“ Noch einmal grinst der Direktor des Museum Boijmans-van Beuningen so breit wie charmant und stopft die Hände in die Taschen seiner Leinenhose.
Die ganze Wahrheit hat er damit allerdings nicht erzählt. Als Dercon und ein Team von Wissenschaftlern vor sechs Jahren damit begannen, die größte und bedeutendste Hieronymus-Bosch-Ausstellung aller Zeiten zu organisieren, war ihr Ziel, zum ersten Mal alle Gemälde und Zeichnungen des Malers an einem Ort zu versammeln und wenigstens einige der Fragen zu klären, die die rätselhaften Bildwelten Boschs seit fünf Jahrhunderten aufwerfen.
Rein quantitativ ist das Unternehmen nicht ganz gelungen: 24 Gemälde werden weltweit noch als eigenhändige Werke Hieronymus Boschs akzeptiert. Weil der Maler mit der Anerkennung schnell auch Schüler und Nachahmer fand, die zum Teil sogar mit dem Namen ihres Vorbilds signierten, ist die Unterscheidung zwischen echt und falsch nicht immer einfach. Bisweilen hilft die Naturwissenschaft: Erst vor vier Jahren musste das Museum Boijmans-van Beuningen selbst eines der Hauptwerke seiner Sammlung, die „Hochzeit zu Kanaan“ als Werkstattarbeit abschreiben – die dendrochronologische Untersuchung der Jahresringe auf der Rückseite der Holztafel hatte ergeben, dass der entsprechende Baum erst nach 1544 gefällt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Hieronymus Bosch aber bereits seit 28 Jahren tot.
18 der 24 anerkannten Bosch-Gemälde sind nun in Rotterdam zu sehen. Gemeinsam mit sieben der acht bekannten Bosch-Zeichnungen bilden sie den Nukleus der schneckenförmig angelegten Ausstellung. So viele Originale an einem Ort zu versammeln, wird allein ihres unermesslichen Versicherungswertes wegen in Zukunft kaum mehr möglich sein. Jedem Bosch-Bild hat Kurator Jos Koldeweij im äußeren Gang der Ausstellungsspirale zudem Dutzende Referenzwerke zur Seite gestellt. Zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei um zeitgenössische Gemälde, auf denen Boschs Themen variiert oder unmittelbar kopiert wurden. Koldeweij gelingt es aber auch, durch Verknüpfungen mit der Kunst des 20. Jahrhunderts Boschs Bedeutung zu vermitteln. In einem der Seitenkabinette schreit auf einem in den Boden eingelassenen, nur wenige Quadratzentimeter großen Videodisplay Pippilotti Rist vor flammenrotem Hintergrund, als brate sie selbst in der Hölle. Salvador Dalís surrealistische Bildwelten gleichen zum Teil bis ins Detail den fantastischen Bildwelten auf Boschs berühmtem „Garten der Lüste“. Leider verweigerte der Prado in Madrid dessen Leihgabe, in Rotterdam ist nur eine zeitgenössische Kopie aus dem Escorial ausgestellt. Ihm zu Füßen liegt im Halbdunkel eine Skulptur des Amerikaners Robert Gober: ein männlicher Unterkörper, auf dessen Gesäß mehrere Notenzeilen stehen. Wer sich die Zeit nimmt, den „Garten der Lüste“ ausführlich zu studieren, wird in der „Hölle der Musiker“ genau dieses Motiv wiederfinden.
Zu den Entdeckungen der Ausstellung zählen vier Bildtafeln mit dem Titel „Visionen aus dem Jenseits“, die sonst im Dogenpalast in Venedig hängen. Die vier eher düsteren Paneele zeigen Bosch als Künstler, der das ausgehende Mittelalter bereits verlassen und sich den Idealen der Renaissance zugewandt hat: Im Mittelpunkt stehen bei ihm nicht mehr religiöse oder mythologische Themen, sondern der Mensch. Selbst auf der Tafel „Aufstieg der Seeligen ins himmlische Paradies“ fehlt jeder eindeutige Hinweis auf Gott oder seinen Sohn.
Die Menschen hingegen beobachtet Bosch so genau wie kaum einer seiner Zeitgenossen. Immer wieder erweist er sich dabei als großer Moralist mit klar differenziertem Menschenbild. Die eine Hälfte seiner Mitmenschen, so ist Boschs Bildern immer wieder zu entnehmen, ist dumm und lässt sich betrügen – und die andere Hälfte, so seine scharfe Beobachtung, weiß das und nutzt es aus. Dem „Gaukler“ auf dem gleichnamigen Bild, das sich heute in Saint-Germain-en-Laye befindet, scheint Boschs Sympathie zu gehören. Die Zuschauer und Opfer des Hütchenspielers stellt er dagegen als tumbe gaffende Masse dar.
Einige der Rätsel um den Einzelgänger Hieronymus Bosch konnte die Rotterdamer Ausstellung im Vorfeld klären. Die entsprechenden Forschungen dokumentiert der zur Ausstellung erschienene Band „Hieronymus Bosch – New Insights on his Life and Work“ (NAI Uitgevers, Rotterdam. NLG 95,00). Zahlreiche seiner Bilder lassen sich nun datieren, einige sogar konkreten Auftraggebern zuordnen. Das Bilderpaar „Johannes der Täufer“ (Madrid) und „Johannes der Evangelist auf Patmos“ (Berlin) entstand, wie man nun weiß, als Flügel ein und desselben Altarretabels der Liebfrauen-Bruderschaft in Boschs Heimatstadt ’s-Hertogenbosch. Wieder gaben die Jahresringe darüber den Aufschluss.
Erheblich mehr Fragen aber bleiben auch weiterhin ungeklärt: Wie fand Hieronymus Bosch schon im 16. Jahrhundert zu Bildwelten, die denen der Surrealisten 300 Jahre später in nichts nachstehen? Entstanden sie in seinem Kopf, nach der Lektüre mystischer Schriften? Und wie war es möglich, dass diese für seine Zeit so infernalischen wie obszönen Tafeln bis auf Altäre fanden?
Die wahren Geheimnisse des Hieronymus Bosch kann auch die Rotterdamer Ausstellung nicht wirklich klären. Und sie muss es auch nicht: Aber allein das sinnliche Erlebnis, so viele Werke an einem Ort sehen und vergleichen zu können, lohnt die Reise nach Rotterdam.
Ausstellung bis zum 11. November im Museum Boijmans-van Beuningen, Rotterdam. Katalog: dt. Ausgabe: Belser Verlag, 98 DM. Internet: www.boschuniverse.org
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