Die Spur der Stolpersteine

Von Censorship zu Sponsorship: Der Regisseur Frank Beyer beschreibt in seiner Autobiografie „Wenn der Wind sich dreht“ seinen Werdegang in der DDR und seine Schwierigkeiten in der Nachwendezeit. Es ist die exemplarische Geschichte eines ostdeutschen Intellektuellen – und dessen Desillusionierung

von CLAUS LÖSER

In der Partei waren sie alle, die noch heute anerkannten, anspruchsvollen Defa-Regisseure: ob Konrad Wolf, Heiner Carow, Rainer Simon, Jürgen Böttcher oder Helke Misselwitz. Das war offenbar etwas völlig Normales, gehörte zum Kanon dieses privilegierten Berufsbildes. Der seit 1977 im Westen arbeitende Egon Günther überwies seine SED-Mitgliedsbeiträge sogar stets pünktlich in harter D-Mark von München aus. Selbstverständlich war auch Frank Beyer – der vielleicht talentierteste der arrivierten ostdeutschen Filmemacher – im Besitz des roten Parteibuches mit den verschlungenen Händen auf dem Deckblatt. Allerdings nur bis zum 28. April 1980 – an diesem Tag entschloss sich die Leitung der SED-Grundorganisation bei der Defa, „der Mitgliederversammlung die Streichung F. Beyers aus den Reihen der Partei vorzuschlagen. Die Mitgliederversammlung bestätigte diesen Vorschlag nach einer außerordentlich verantwortungsbewussten und parteimäßigen Diskussion einmütig.“

So stand es in einem Brief des für Agitation und Propaganda zuständigen ZK-Sekretärs Joachim Herrmann an den Großen Vorsitzenden Erich Honecker. Nachzulesen ist er in der soeben erschienenen Autobiografie des Film-, Bühnen-, und Fernsehregisseurs. Bereits der Titel umschreibt Beyers Perspektive griffig: „Wenn der Wind sich dreht“, dann drehen sich die meisten mit. Wer aus Idealismus auf seinem bisherigen Standpunkt beharrt, wird von den Opportunisten still belächelt, im Zweifelsfall aber gnadenlos ausgebremst. Dass es sich dabei um ein universell menschliches, zumindest sehr deutsches Verhalten handelt, versucht Beyer in seiner privaten Zeitreise immer wieder aufzuzeigen. Censorship und Sponsorship, so eine gern benutzte Formel des Filmemachers, unterscheiden sich in ihren Auswirkungen letztlich nur geringfügig. Nicht zufällig schreibt er im Vorwort, dass die Entstehung des Buches in direktem Zusammenhang mit dem Scheitern seines Jahrestage-Projektes in Zusammenhang stand. Im September 1998, kurz vor Beginn der Dreharbeiten, wurde der gesamte künstlerische Stab der Johnson-Verfilmung entlassen und die Regie bekanntlich Margarethe von Trotta übergeben. Die sich ergebende Zwangspause und der angestaute Frust veranlassten Beyer zur Niederschrift des Buches.

Er arbeitet sich chronologisch, fast protokollarisch durch die eigene Biografie, findet durch die in sein Leben eingreifenden politischen Zäsuren aber fast automatisch eine Struktur. Zunächst das Ende des Nationalsozialismus und die unmittelbare Nachkriegszeit in Thüringen, der alltägliche Überlebenskampf mit Schwarzmarkt, Kohlenklau und Steckrübensuppe: Oral-History-Anekdoten, wie sie heute noch in jeder deutschen Familie zum Erinnerungsfundus gehören. Seinen ersten aktiven Kontakt mit dem Medium Film hat er als Dreizehnjähriger, als er beim Plündern einer Wehrmachtskaserne einen Schmalfilmprojektor stiehlt.

Nach dem Abitur wird er im thüringischen Altenburg Kreissekretär des Kulturbundes, probiert sich dann als Dramaturg und Regieassistent an einem sächsischen Provinztheater und schafft 1952 durch einen Zufall den Sprung an die später zur Legende aufsteigende Prager Filmhochschule Famu. Nach der Rückkehr in die DDR und Assistenzen bei Hans Müller, Kurt Maetzig und Kurt Jung-Alsen gelingt ihm mit „Fünf Patronenhülsen“ (1960) jener Film, mit dem er seine überdurchschnittliche Begabung erstmals belegen konnte. Zeitlich fiel dieser Phasensprung mit Begegnungen zusammen, die sein späteres Werk und auch die damit verbundenen politischen Implikationen prägen sollten: neben dem Kameramann Günter Marczynkowsky betrifft dies vor allem die Schauspieler Erwin Geschonneck, Armin Mueller-Stahl und Manfred Krug. Insgesamt hat Frank Beyer in der DDR zwölf Spielfilme gedreht; mit „Nackt unter Wölfen“ (1962), „Karbid und Sauerampfer“ (1963), „Spur der Steine“ (1966) und „Jakob der Lügner“ (1974) sind vier Filme darunter, die aus dem Gros des Defa-Nachlasses mit seinen 750 Produktionen weit herausragen – insgesamt eine äußerst heterogene Werkbiografie, die die Widersprüche der ostdeutschen Gesellschaft reproduziert.

Für den Autor kulminierten die Ereignisse zweimal: einerseits 1965 zum 11. Plenum der SED, als nahezu die gesamte Defa-Jahresproduktion verboten wurde und damit auch sein Bravourstück „Spur der Steine“, andererseits 1976 mit den Eruptionen, die die Biermann-Ausbürgerung nach sich zog.

„Wenn der Wind sich dreht“ beschreibt die Geschichte eines langen Abschieds – eines Abschieds nämlich von realsozialistischen Utopien und ganz konkret auch vom persönlichen Verlust einer Heimat namens DDR. Im längsten Kapitel des Buches rekapituliert Beyer die politbürokratischen Manöver, die zur Kastration seines Fernsehfilms „Geschlossene Gesellschaft“ und zum Rausschmiss aus der SED führten. Originaldokumente und Spitzelberichte reanimieren noch einmal die Sprache der zuständigen Hauptverwaltung XX (HV XX), der inoffiziellen Mitarbeiter und Parteikader. Sinnigerweise hatte man den Künstler in einem „Operativen Vorgang“ (OV) mit dem Titel „Karbid“ bearbeitet. Diese Auszüge zeigen, wie weit sich Beyer von den einst auch von ihm getragenen Dogmen entfernt hatte bzw. diese sich von ihm.

Frank Beyer ist Filmemacher, kein Schriftsteller. Anders als in seinen Filmen, bei denen er stets wichtige Teile der Gestaltung in kompetente Hände legte (er ist kein Autorenfilmer im klassischen Sinne), übernahm er für sein Buch alles selbst. Das hat den Vorteil, dass die Sprache eine sehr unmittelbare, authentische ist, in ihrem Duktus der Denkweise des Urhebers entspricht. Man kommt dem Menschen Beyer beim Lesen nah. Teilweise schwankt er allerdings zwischen dem Bedürfnis, eine möglichst allgemeinverständliche und -gültige Chronik der DDR vorzulegen, naturgemäß aber mit einer Fülle filmspezifischer Details aufzuwarten. Die Mischung dieser beiden Komponenten führt mitunter zu merkwürdigen Verquickungen.

Als er in Prag Miloš Forman kennen lernt, spricht er von ihm als „Regisseur berühmter tschechischer und US-amerikanischer Filme“. Veit Harlans „Kolberg“-Film bezeichnet er einmal als „ein 1944 gedrehtes Nazi-Machwerk“. Das sind dann doch recht banale Informationen, die bestenfalls in einem Anhangteil Berechtigung gehabt hätten. Schade überhaupt, dass es kein Namens- und Titelregister gibt. Dafür einen etwas peinlich wirkenden Erklärungs-Appendix über ein MDR-Feature, in dem sich Beyer missverständlich über ehemalige Mitschüler geäußert und deren Unmut erregt hatte.

Auch könnte man ihm bei der Rekonstruktion der Willkürakte im Defa-Studio einen gewissen Tunnelblick vorwerfen, der jenseits eines analytischen Ansatzes bleibt. Was außerhalb des eigenen Erlebens stattfand, findet keinen Eingang. Dass Hannes Schönemann (1969 bei Beyers Fernsehfilm „Rottenknechte“ Regieassistent) 1984 mit seiner Frau verhaftet und nach mehreren Monaten Haft in den Westen abgeschoben wurde, wird beispielsweise mit keiner Silbe erwähnt. Wichtig ist Beyers Buch vor allem als subjektiv geprägte Ergänzung zu Grundlagenarbeiten wie „Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg“ (hg. von Ralf Schenk) oder „Repression und Freiheit“ von Axel Geiss. Wichtiger noch als Beleg dafür, dass es auch innerhalb des restriktiven DDR-Defa-Systems Entscheidungsfreiräume gab. Darin besteht das wesentliche Verdienst dieser Autobiografie: sie straft all jene Lügen, die sich als Grund für ihr individuelles Versagen noch immer auf Weisungsnotstände berufen.

Frank Beyer, „Wenn der Wind sich dreht – Meine Filme, mein Leben“, Econ, München 2001, 431 Seiten, 44,91 DM