: Big Band Marshall
■ Wayne Marshall entlockte dem Philharmonischen Staatsorchester beim Musikfest Big-Band-Qualitäten
Wayne Marshall kann viel – zum Beispiel improvisieren. Eine seltene Tugend unter Klassikern. Zum Glück ist der klassische Pianist Marshall auch Jazzer und auch Organist, und die haben sich die Kunst des freien Phantasierens zum Teilerhalten.
Dem Bremer Musikfest-Publikum brachte Marshall eine bekannts Melodie zwecks Umspielung und Zersetzung mit: Die Nationalhymne. Und was Marshall mit dem ursprünglich Haydnschen Streichquartett so alles anstellte, war spannend. Ob die „Einigkeit“, das „Recht“ und die „Freiheit“ in Waynes linker Hand, umflirrt vom hochlagigen Klangteppich der Rechten, nach melodiöser Kontur tasteten, ob dem „glanzvollen Blühen“ von einem schnell treibenden Boogie-Bass auf die Schulter geklopft wurde – Waynes Improvisationen konnten als wohltuender Beitrag zur „Leitkultur“-Debatte gehört werden. Wobei statt eines hämischen Zerpflückens des „Liedes der Deutschen“ eher ein lustvolles Zerfließen stattfand.
Wayne Marshall kann viel – manchmal tut er aber zu viel. Zum Beispiel Reden. In routinierter Conferencier-Attitüde plauderte der schwarze Brite mit dem Publikum, reihte Scherz an Scherz – an Scherz.
Der Charme des „grenzenüberwindenden, fröhlichen Miteinanders von Auditorium und Ausführenden“ (Leonard Bernstein) versickerte zusehends in der Breite der Ansagen.
Wenn Marshall das Mikro mit dem Stab vertauschte, verbreitete er jedoch Rundumgenuss. Aus Richard Rodgers Ballett-Szene „Slaughter on Tenth Avenue“ machte Marshall ein kontrastreiches Stück Orchesterjazz („A good piece, isn't it“), in Gershwins „An American in Paris“ motivierte er Konzertmeisterin und ersten Trompeter zu beachtlich bluesigen Solo-Einlagen.
Überhaupt tat die Zusammenarbeit – man könnte sie „bandleadering the Bremen Philharmonic“ nennen – sichtlich gut. Einzig im experimentelleren Teil des Abends – „Variations sur un thème plaisant“ des Franzosen Jean Francaix (gest. 1979) – beschränkten sich die Bremer auf statistisch anmutende Teilnahme. Wayne Marshall als Solist am Flügel spielte die begleitenden Bläser der Philharmonie gandenlos an die Wand. Am allerwenigsten hatten die Hörner zu lachen, die unter anderem mit trudelnden Triolen kämpften.
Kein Dämpfer für die Glocke-Gänger. Doch Mister Wayne Mar-shall, ganz Zugaben-Muffel, ließ sie letztendlich ins Leere klatschen. Auch ein Conferencier muss mal ins Bett.
Henning Bleyl
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