piwik no script img

„It’s down, it’s down!“

Kulturkorrespondent Thomas Girst über die Stunden der Katastrophe

NEW YORK taz ■ Ich schreibe diesen Text in Soho, an meinem Arbeitsplatz, dem Art Science Research Laboratory, Inc., kaum eine Meile entfernt von dort, wo vor gut zwei Stunden noch beide Türme des World Trade Centers gestanden haben. Wir fürchten mehr Flieger, die runterkommen, biologische Waffen, die vielleicht bereits mit den Autobomben in die Luft gegangen sind.

Heute Morgen begann ich für meine Kolumne, „Nicht repräsentativ – was Amerika von George W. Bush denkt“, Leute auf meinem Weg zur Arbeit und von der Arbeit zu bitten, in einem Satz zu beschreiben, was sie von ihrem Präsidenten halten. Der Einzige, den ich auf dem Weg zur U-Bahn fragte, war Mike, der darauf wartete, dass der Liquor Store auf der Manhattan Avenue öffnet, in Greenpoint, Brooklyn, auf der anderen Seite des East River. „Bush“, sagte er, „ist ein netter Kerl, ein guter Präsident.“

In Manhattan stieg ich an der Ecke Broadway und Prince Street in Soho aus, die Subway werde nicht weiterfahren, hieß es über den Lautsprecher, was oft passiert beim maroden Zustand der öffentlichen Verkehrsmittel. Strahlend blauer Himmel – und eine riesige Rauchschwade, Leute, die weinen; in einer Straßenflucht sehe ich nach oben, beide Türme des WTC brennen lichterloh, beide stehen noch, man spricht schon von den Flugzeugen, Handys piepen. Das FBI hat Gebäude abgeriegelt, Mitarbeiter des FBI untersuchen Trümerhaufen, die aussehen wie Flugzeugteile, in Gebäude eingeschlagen, die Fassade teilweise mit runtergeholt, viele hundert Meter entfernt vom WTC.

Ich habe im Art Science Research Center haltgemacht, mir eine Digitalkamera geschnappt und laufe Downtown. Keiner denkt daran, dass die Gebäude zusammenfallen können. Menschen schreien, laufen, meist Richtung Dowtown, mit hoher Geschwindigkeit rasen Einsatzwagen der Polizei, der Feuerwehr, der Krankenhäuser durch die Straßen. Ich stehe direkt vor dem Woolworth Building, mit Tausenden, die sich auf dem Broadway versammeln. Händler laden inmitten des Chaos, des Sirenengeheuls, ihre Waren in die Keller ihrer Delis. Viele sind bleich und laufen wie verloren herum.

Mit einem Mal beginnt die Erde zu beben, alle schreien und laufen, ich denke, es ist das laute Rattern der Subway, die unterirdisch davonprescht, mit einem Mal ein ohrenbetäubender Krach. „It's down!“, „It's down!“ schreien Leute, eine immense Rauchwolke schießt auf den Broadway, jeder läuft so schnell wie er kann, um nicht erfasst zu werden von der Wolke. Ein Turm des World Trade Centers ist kollabiert. „I know people in there!“, rufen viele, ich sehe Amy auf der Straße, eine befreundete Galerieangestellte, geisterhaft verloren.

Natuerlich denkt man an Filme, die Szene in Independence Day, als die Autos auf der Straße durch den Druck der Explosion hochfliegen, an die Leute in David Lynchs Filmen, verloren nach einem Autounfall, ziellos umherirrend. Keiner realisiert, dass tausende von Leute gestorben sind. Fremde werden umarmt. Man will telefonieren, mit den Liebsten in Europa, und kommt nicht durch.

Wie oft hat es einen genervt, das World Trade Center, egal wie hart man gearbeitet hat, egal wie spät man nach Hause kommt: Immer brannten dort noch die Lichter, die darauf verwiesen, dass dort immer noch gearbeitet wurde, dass man sich dort weder Schlaf noch Pause gönnte, rund um die Uhr. Dabei war das World Trade Center längst gefüllt mit Künstlern, die ganze Etagen unvermieteter Büroflächen als Ateliers nutzen konnten. Das Lower Manhattan Cultural Center befand sich dort und ermöglichte vielen oft gänzlich mittellosen Künstlern, dort zu arbeiten, im 91. Stockwerk des WTC mit großen Ausstellungen rund ums Jahr. Weg. Alles weg und fort.

Mit ein paar Angestellten sitzen wir im Art Science Research Lab, schauen drei Kanäle gleichzeitig, voller Furcht, hören Radio. Keiner will auf die Straße. Solange man die Leute kennt, die um einen sitzen, kommt man sich nicht so verloren vor, wie es das Geheul der Sirenen von der Welt da draußen zu vermitteln scheint. Für übermorgen habe ich einen Flug nach Deutschland. Am 22. September soll ich am Bodensee heiraten. Für heute bin ich froh, dass ich meine Freundin am Telefon erreicht habe. Man hört die US Army Fighter Jets über Manhattan kreisen, mit dem Befehl abzuschießen, was sich noch aus der Luft auf Manhattan zubewegt. Es ist unvorstellbar. Eigentlich fehlen die Worte. Die besten Zeilen zu New York, so hat das der Berliner Dichter Björn Kuhligk mal formuliert, bleiben einem sowieso im Halse stecken. Heute sollten in NY eigentlich die „Primaries“ für die nahen Bürgermeisterwahlen stattfinden. Giuliani ließ vor wenigen Jahren eine mit Panzerglas geschützte Zentrale einrichten, in der in NY, im Falle einer Katastrophe, alle Fäden zusammenlaufen sollten. Sie befand sich im New York Trade Center. THOMAS GIRST

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen