: Keine Worte für das Unfassbare
Mit Mahnwachen vor der amerikanischen Botschaft bekunden Hunderte von Berlinern Solidarität mit den USA. Doch in die Trauer mischt sich Angst
von BARBARA BOLLWAHN, PHILIPP GESSLER und HEIKE HAARHOFF
Garry hat das Bierglas noch halb voll, da bestellt er bereits das nächste. Seit einer Stunde geht das nun schon so. Garry sitzt am Tresen und trinkt in großen Schlucken. Bier ist nicht gerade ein Mittel, um sich schnell zu betäuben, und deswegen braucht er ständig Nachschub. Die Bedienung im „Kaiser Sauce“ sieht es ihm nach. Es ist Ausnahmezustand am Dienstagabend, auch in der halb vollen Kneipe in Berlin-Mitte, in der viele US-Amerikaner wie Garry verkehren. Im Fernsehen läuft n-tv, nicht CNN, aber das ist egal, denn die Bilder sind ohnehin dieselben und die Musik aus der Anlage überschallt die Worte des Sprechers. Aber darauf kommt es nicht an: „Wie viele Leute es getroffen hat, wer die Täter waren, das kriegen die heute Abend sowieso nicht raus.“
Garry will den Abend nicht allein zu Hause verbringen. Seine Freundin arbeitet bei einer Außenstelle der UNO in New York, ihr Büro liegt wenige hundert Meter vom World Trade Center entfernt. Sie lebt, ja, er hat sie erreicht, sie saß in der U-Bahn, als es passierte. Aber die anderen Freunde, er hat sie nicht anrufen können, das Telefonnetz in New York war zu dem Zeitpunkt schon zusammengebrochen. Und jetzt würde er am liebsten hin, gleich, sofort. Helfen, mitanpacken, aber das geht nicht, nicht nur, weil er in Berlin arbeitet, er sitzt fest, es gibt keine Flüge in die USA. Was soll man tun? Noch ein Bier. „Das Schlimme“, sagt Garry dann, „ist ja, dass das mit dem Hass auf die arabische Welt jetzt erst richtig losgehen wird – egal, ob die es waren oder nicht.“
Nicht weit von der Kneipe, wenige Meter vor der amerikanischen Botschaft in der Nähe des Brandenburger Tors, hängt ein Transparent in englischer Sprache: „Keine Revanche, bitte, keinen Dritten Weltkrieg.“ Gestern morgen hat der Regen die blauen Buchstaben schon blass gewaschen. An einem Laternenpfahl haben zwei Berliner ein Blatt Papier aufgehängt, eingeschweißt in Plastikfolie: „Liebe Amerikaner(innen), jahrelang seid ihr für die Freiheit unserer Stadt da gewesen, jetzt möchten wir in dieser schwierigen Zeit für euch da sein.“ Die Zeilen enden mit zehn Ausrufezeichen. In einem Pappkarton stecken Plüschtiere. Um den Laternenpfahl herum stehen Hunderte von roten Kerzen. Dazwischen liegen Dutzende einzelner Rosen und ein kleines Meer an Blumensträußen.
Den ganzen Tag kommen Menschen zum Botschaftsgebäude, die wenigsten unterhalten sich. Ihre Betroffenheit drücken sie mit ihrem Schweigen aus, mit den Blumen und Kerzen, die sie mitgebracht haben. Zahlreiche Schulklassen sind mit ihren Lehrern gekommen. Zwei Mädchen aus einer Berufsschule in Berlin-Tempelhof halten sich eng umarmt, Tränen laufen ihnen die Wangen hinunter. „Es geht uns sehr nah, es ist unglaublich“, sagte die 21-jährige Juliane und wischt eine Träne weg. Die 20-jährige Lucienne: „ Ich habe große Angst, so etwas Schreckliches könnte hier auch passieren.“
Auch Sebastian, ein 19-jähriger Azubi, am Sweatshirt ein Aufnäher der US-Band „Everlast“, sagte mit leiser Stimme: „Man hat schon Angst.“ Ein Ehepaar aus Holland, das in Berlin Urlaub macht, lässt den Regenschirm zugeklappt, obwohl es zu regnen beginnt. Der Regen prallt an den Jacken ab. „Wir wollten gestern eigentlich in die Oper“, erzählt die Frau. „Ich war etwas enttäuscht, aber das andere war schrecklicher.“ Als der Regen stärker wird, blickt eine ältere Frau zum Himmel. „Der Himmel weint mit“, sagt sie mit Tränen in den Augen.
Als am Dienstagnachmittag die ersten Bilder aus Amerika über die Fernsehschirme geflimmert sind, ist Betroffenheit das bestimmende Gefühl in der Stadt. Mehr als 1.500 Menschen strömen abends in den Berliner Dom am Lustgarten, um bei einem Gottesdienst mit dem evangelischen Landesbischof Wolfgang Huber und dem katholischen Kardinal Georg Sterzinsky der Toten zu gedenken. Der wilhelminische Bau ist überfüllt, einige hundert Menschen stehen vor den Kirchentüren, singen gemeinsam, schweigen, beten.
In der U-Bahn und auf den Straßen der Hauptstadt fallen immer wieder die gleichen Sätze: „Hast du schon gehört?“, „Das ist ja schrecklich!“, „Unglaublich!“ Viele Lokale an der Oranienburger Straße, dem ehemaligen jüdischen Viertel, sind so gut wie leer, Kellner und Köche sehen fern. Die Synagoge ist mit Gittern abgesperrt, Polizisten bewachen das Gebäude mit Maschinenpistolen. Ein Mann bleibt stehen und fragt: „Was wollen Sie machen, wenn eine Boeing kommt?“ Der Polizist zuckt mit den Schultern. „Tja, so ist das eben.“
Auf dem Prachtboulevard Unter den Linden sind weit mehr Menschen unterwegs. Etwa sechzig Personen drängen sich in einem Fernsehgeschäft vor fünf großen Geräten. Schweigend verfolgen sie die Nachrichten. Normalerweise macht der Laden um 20 Uhr zu. Doch an diesem Abend ist er auch um 22 Uhr noch voll. Gegen 22.30 Uhr wird das Personal ungeduldig. „Wir möchten Schluss machen“, sagt ein Verkäufer. „Vielleicht begrüße ich Sie wieder, wenn Sie ein neues Gerät brauchen.“
Viele Menschen ziehen weiter zur amerikanischen Botschaft. Hunderte sind einem Aufruf der Berliner Initiative „Mahnwache Brandenburger Tor“ gefolgt. Die etwa 3.000 roten Kerzen, die die Organisatoren mitgebracht haben, werden ihnen förmlich aus der Hand gerissen. Weil kaum einer Worte für das Unfassbare hat, zünden die meisten Kerzen an.
Eine gute Stunde vor Mitternacht ertönt über Lautsprecher die Stimme von Friedhelm Lennarzt, einem der Organisatoren der Mahnwache. „Wir haben uns zusammengefunden, weil wir zutiefst erschüttert sind, dass solche Dinge stattfinden können.“ Außer dem Rauschen der Autos und Busse ist kein Laut zu hören. Nach der Schweigeminute spricht Lennarzt ein „Amen“ und intoniert die ersten Takte von „We shell overcome“. Im Anschluss muss sich der Organisator kritische Fragen gefallen lassen. „Ist dem Terror mit Gewaltfreiheit beizukommen?“, fragt ein Mann. Auch darauf hat Lennarzt eine Antwort: „Wenn wir viele sind, geht’s“. Etwas abseits steht ein Paar, Mitte dreißig. Die beiden halten Kerzen in der Hand und singen „Halleluja“.
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