: Frisch, windig, neugierig
Ein Jubiläum kann sich schlecht in Luft auflösen: Die literaturWERKstatt in Pankow feiert ihren zehnten Geburtstag
Vorletzte Woche rief mich mein Freund Guido aus Köln an. „Stell dir vor“, sagte er, „ich habe mich beim Open Mike beworben.“ Ich stellte mir vor. „Wenn ich eingeladen würde“, sagte er und fing an, sich ein anderes Leben auszumalen: das Berliner Publikum. Verleger von Reclam oder Rowohlt, die sofort mit einem Vertrag angesprungen kommen. Noch hat die literaturWERKstatt Pankow nichts verlauten lassen. Aber dann haben sich die Flugzeuge auf Amerika gestürzt.
Berlin ist solidarisch, die Pressekonferenz zum zehnjährigen Bestehen der literaturWERKstatt abgesagt, aber ein Jubiläum als solches kann sich schlecht in Luft auflösen. Also wird heute, so gegen 15 Uhr, mit dem Feiern begonnen. Vielleicht, weil die literaturWERKstatt am Majakowskiring schon ganz andere Sachen überlebt hat.
Das Haus, in den Dreißigerjahren auf zwangs-„arisiertem“ Grundstück errichtet, war 1945 enteignet worden. Otto Grotewohl, erster DDR-Ministerpräsident, wohnte in den Fünfzigerjahren in der Villa, später machte man daraus ein Gästehaus. Als der DDR-Schriftstellerverband dann im Zuge der Ausweisung Wolf Biermanns mehrere kritische Kollegen ausschloss, erhielt er das Haus am Majakowskiring zur Belohnung; damals zog die organisierte Literatur zum ersten Mal ein. 1989 schließlich wurde die Villa von rührigeren Schriftstellern und Übersetzern in Beschlag genommen, und 1991 ließ sich die literaturWERKstatt Pankow dort nieder.
Freilich nur vorsichtig. Denn seit der Anfangszeit der literaturWERKstatt ist bekannt, dass die Jewish Claims Conference das Grundstück für die Alteigentümer zurückfordert. Seit Januar 2000 nun bieten die rechtmäßigen Erben Haus und Grundstück zum Verkauf an. Bis Ende des Jahres bleibt die literaturWERKstatt am Majakowskiring, danach soll es in die Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg gehen.
Das Programm, frisch-windig, engagiert und neugierig, wird mitziehen. Wie bisher wird sich die literaturWERKstatt dem Schreiben fremdsprachiger Autoren widmen, Podiumsdiskussionen und Lesungen veranstalten, die Lyrik als solche fördern und den schriftstellerischen Nachwuchs. Die literaturWERKstatt organisiert die jährlich stattfindende Sommernacht der Lyrik und betreut die Internet-Seite www.lyrikline.org, wo man Benn, Bachmann oder Grünbein lesen kann und hören. Sie hat die Weichen für den letztjährigen, Europa durchziehenden Literaturexpress gestellt, das mega-publicityträchtige Fuhrunternehmen für junge Autoren der Gegenwart. Und sie lädt ständig und von überall her Menschen nach Pankow ein, die das Schreiben im Hier und Jetzt bestimmen, so oder so: Volker Braun war da, Sascha Anderson und Marlene Streeruwitz. Michel Houellebecq hat anlässlich einer Lesung erzählt: „Das Dichten ist eine der seltenen Situationen, wo ich gar nichts denke.“ Demnächst kommt Sigrid Löffler zu einem Gespräch, im November wird wieder der Open Mike stattfinden, 25 Autoren, und jeder hat nur eine Viertelstunde Zeit. Vielleicht wird sogar Guido eingeladen. CHRISTIANE TEWINKEL
Heute ab 15 Uhr in der literaturWERKstatt, Majakowskiring 46/48, Pankow
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen