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Alles auf halbmast

■ HSV leistet beim 3:3 gegen Gladbach den spielerischen Offenbarungseid. Pagelsdorf bleibt jetzt noch eine Woche

An der Spielfeldbande des Volksparkstadions steht groß: „Wir trauern“, und man weiß am Ende nicht so genau, wem das gilt. Vielleicht dem spielerischen Potenzial des Hamburger SV, der in dieser Hinsicht am Samstag beim 3:3 gegen Borussia Mönchengladbach wieder einmal einen Offenbarungseid ableistete.

Vor dem Spiel war noch alles klar: Der Stadionsprecher bläute den Fans ein, dass dies Spiel nur deswegen angepfiffen wird, „um den fanatischen Terroristen zu zeigen, dass sie nicht alles umstoßen können, was für uns bis Dienstag noch normal war“. Bundesliga-Fußball zum Beispiel. Im Presseraum lief auf dem Fernsehschirm RTL: „Terror gegen Amerika“. Die Hörfunkkollegen der öffentlich-rechtlichen Anstalten hatten zuvor interne Anweisungen aus der Chefetage erhalten, das Wort „Schicksalsspiel“ an diesem Tag nicht zu verwenden. Und zwischen den Fantransparenten der Wilhelmsburger Jungs und den HSV-Fans Leer/Ostfriesland hing ein „God bless America“ – knapp unterhalb der Fanbanner der „Humörbomben“ und der „Psychopathen Steinfurt“, die dementsprechend Fingerspitzengefühl bewiesen. Nur der Rheinländer an sich bleibt auch dann ein genuin fröhlicher Mensch: Die Gladbach-Kurve ließ sich schon vor dem Match in ihren Gesängen nicht von der Tatsache einschüchtern, dass der Hauptsponsor des HSV-Stadions America Online heißt.

Spätestens nach 15 Minuten interessierte das im fast ausverkauften Stadion ohnehin niemanden mehr. Da hatte der HSV auf mirakulöse Weise aus zwei Chancen zwei Tore gemacht, Frank Pagelsdorf war wieder der Liebling der Fans, undRTL hatte inzwischen auch längst zu Kai Ebel in die Boxengasse umgeschaltet.

Das hatte die Pagelsdorf-Mannschaft offenbar auch zu einem dann allerdings 75 Minuten währenden Boxenstopp animiert. Statt mit der beruhigenden Führung locker aufzuspielen, litt die gesamte Mannschaft außer Torwart Martin Pie-ckenhagen unter Dauerverkrampfung. Der Druck, das Spiel gewinnen zu müssen, um dem Ultimatum von Präsident Werner Hackmann – „aus den kommenden zwei Heim-spielen müssen sechs Punkte her“ – gerecht zu werden, wirkte sich darin aus, dass jeder Pass mit mehr als 15 Metern Länge punktgenau beim Gegner ankam und die Gladbacher den HSV teilweise in der eigenen Hälfte einkesselten. Großherzig, wie der Niederrheiner laut Hans-Dieter Hüsch nun einmal ist, begnügten sich die Borussen damit, zweimal das HSV-Netz auszubeulen und ließen dickste Chancen durch van Lent und Demo liegen.

Frank Pagelsdorf sah nichtsdes-toweniger nach dem Spiel, dass wir „ein bisschen Feldvorteile gehabt“ haben und diagnostizierte sich damit besorgniserregenden Realitätsverlust. Der befiel virenartig anschließend auch den Vorstand. Hackmann wollte plötzlich nie ein Ultimatum gestellt haben, und der sportliche Leiter, Holger Hieronymus, pfiff jede JournalistIn kiebig an, die nur das Wort Trainer in den Mund nehmen wollte. Und alle nahmen es in den Mund. „Die Trainerfrage stellt sich nicht“, biss Hieronymus fast ins Mikro. Es klang ein bisschen nach: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“

Ach ja, und dann gab es noch diese 90. Minute. Denn dort passierte doch noch ein Wunder. Der HSV schoss via Ali Albertz ein Tor zur 3:2-Führung, statt wie üblich eins in der Schlussminute zu kassieren. Aber dann kehrte doch wieder Normalität ein: Allerletzter Angriff, Borussen-Neuzugang Marcin Miciel schraubt sich zum Fallrückzieher hoch: 3:3. Und ganz viele Cola-Dosen erhielten von ganz vielen hässlichen, dicken Männern in blau-weißen Schals auf dem Heimweg einen Tritt. Ihr Weg führt vorbei an der HSV-Flagge. Die hat jemand in weiser Voraussicht auf halbmast gehängt. Man ahnt, wem es gilt.

Nächste Woche nach dem Bremen-Spiel mehr davon.

Peter Ahrens

Tore: 1:0 Benjamin (14.), 2:0 Albertz (16., Foulelfmeter), 2:1 Münch (22.), 2:2 van Houdt (56.), 3:2 Albertz (90.), 3:3 Miciel (92.)

Zuschauer: 52.000

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