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Mächtige als Marionetten der Geschichte gezeichnet

■ Das gesamte Wissens-Panorama aufgeblättert: Umberto Eco liest aus seinem Roman Baudolino

„Das Problem meines Lebens ist, dass ich nie deutlich getrennt habe zwischen dem, was ich wirklich sah und dem, was ich sehen wollte...“ Baudolino, der Bauernjunge aus der Lombardei, ist nicht gerade ein zuverlässiger Erzähler. 1204 beginnt er seine Geschichte inmitten der in Schutt und Asche gelegten Stadt Konstantinopel.

Dass er ein Meister in der Vermengung von Fakten und Fiktionen ist, beweist schon die Schilderung seiner ersten Begegnung mit Kaiser Friedrich I., auch Barbarossa genannt. Bei der Verteidigung seines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegen eine der italienischen Städte der Lombardei trifft Barbarossa auf den Knaben Baudolino. Mit einer fragwürdigen „Vision“ inspiriert Baudolino die kaiserlichen Truppen zum Sieg. Und schon hat Umberto Eco seinen Fabulierkünstler da, wo er ihn haben will, an der Seite des mächtigsten Mannes des Hochmittelalters, der den Jungen kurzerhand adoptiert. Baudolino wird Zeuge der Schlachten und religiösen Auseinandersetzungen, in denen der Kaiser seine Macht zu verteidigen sucht. Ob nun die Kämpfe gegen die lombardischen Städte unter der Führung Mailands, das Kräftemessen mit den Päpsten oder die Kreuzzüge, die Baudolino schließlich nach Konstantino-pel führen, immer ist er im Zentrum der europäischen Geschichte.

Wie schon in seinen Romanen Der Name der Rose, Das Foucaultsche Pendel und Die Insel des vorigen Tages nähert sich Eco der Geschichte mit einem Augenzwinkern. Die Wahl des Hochmittelaters ermöglicht es ihm, ein weiteres Mal ein Panorama seines Wissens auszubreiten. Gleichzeitig erlauben ihm die Kämpfe Barbarossas die Verfolgung einer semiotischen Frage: Wie legitimiert sich Macht? Wie schon bei der ersten Begegnung Barbarossas mit Baudolino werden die folgenden Ereignisse als Ergebnisse der überzeugenden Fabulierkunst des Erzählers dargestellt. Als Student an der Universität von Paris taucht Baudolino tief hinein in die Legenden seiner Zeit, aus der er immer wieder neue Tricks hervorzaubert, um seinen Kaiser zu unterstützen. Drei Leichen unbekannter Herkunft werden auf Baudolinos Vorschlag hin zu den Reliquien der Heiligen Drei Könige umfunktioniert. Die auf Baudolinos Ansinnen hin ins Leben gerufene Universität von Bologna wird durch kaiserliches Dekret mit der Befugnis ausgestattet, den Kaiser nun ihrerseits zu legitimieren. In Umkehrung der herkömmlichen Geschichtsbuch-Logik, die die Mächtigen als Motoren der Geschichte begreift, erscheint Barbarossa hier als Marionette, die dank einer Reihe fragwürdiger (Sprech-)Akte zur Machtinstanz wird. Einer nach dem anderen werden die mittelalterlichen Gründungsakte des europäischen Machtgefüges einer Revision unterzogen. Der Erzähler Baudolino bleibt eine unmotivierte Gestalt, die außer ihrer eigenen Erfindungsgabe keinem Interesse verpflichtet ist. Es fehlen außerdem die dichte Atmosphäre des Klosters und die kriminalistische Spannung, die dem Namen der Rose zu Weltruhm verhalfen. Doch von einem amüsanten Abend mit dem Marionettenspieler höchstpersönlich sollte sich trotzdem niemand abhalten lassen. Volker Hummel

Umberto Eco: Baudolino. Hanser Verlag, 600 S., 49,80 Mark

Lesung: heute, 20.9., 20 Uhr, St. Johanniskirche Harvestehude (Ecke Turmweg/Heimhuder Straße)

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