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Doppelgänger im akustischen Spiegel

Leitmotiv Landleben und urbane Lügen: Das Schauspielhaus Zürich eröffnet die Saison mit Inszenierungen von Ruedi Häusermann und Luc Bondy

Und schnell ist das Theater auch. Kaum war das Jahresheft von Theater heute erschienen, in dem das Zürcher Schauspielhaus für sein erstes Jahr unter der Intendanz Christoph Marthalers zum Theater des Jahres ernannt wurde, da waren auf dem Septemberprogramm schon Lorbeerzweige gedruckt. Auf dem Foyerteppich im Pfauen, der angestammten Plüschbühne des Theaters, steht nun in derselben Schrift: „Publikum des Jahres“. Und um das Spiel tatsächlich näher an Volk und Bräuche heranzutragen, eröffnete man die Saison vergangene Woche nicht im bourgeoisen Pfauen mit Luc Bondy, sondern im dynamischen Schiffbau mit dem Schweizer Ruedi Häusermann. Letzterer präsentiert eine Art Trilogie der Dorfkultur, allerdings mit avantgardistischen Mitteln. Auch Bondys Arbeit, die vorgestern Premiere feierte und unspektakulär, aber genau ein Hitchcock-Dreieck seziert, entwickelt sich im Fokus auf das Landleben. Man müsste vom Leitmotiv dieser Eröffnungsinszenierungen sprechen, wäre da nicht noch eines: die Figur des Doppelgängers.

Denn Ruedi Häusermann ist ein alter Weggefährte Marthalers. Er singt, musiziert und trägt gerne campy Kleider auf der Bühne. Häusermann taucht deshalb in der weltweiten Bleiwüste immer in ästhetischer Nähe zu Marthaler auf. Wer in Zürich nun sein wieder aufgenommenes Solo „Der Schritt ins Jenseits“, die Beatles-Hommage „Long-Slow-Fade“ und das experimentelle Idyll „Väter Unser“ gesehen hat, wird vorsichtiger mit Marthaler-Vergleichen. Häusermann ist kein genialer Schauspieler-Entfessler wie das „Original“, und Häusermann hat meistens keine Stefanie Carp in der Dramaturgie, die kühl und klug Fäden zusammenführen kann. Nein, der Ruedi macht alles – spielen, konzipieren, Regie führen – immer auch selber oder mit Freunden. Schlechter macht es das meistens nicht, anders aber schon.

Was die drei Abende zur Trilogie zwingt, erschließt sich auf den ersten Blick ganz materiell. Stets schwingende Drähte, Fäden, Kabel und Bänder verbinden die einzelnen Stücke zum tönenden Ganzen. Wichtiger noch: Vieles an den drei Abenden kann auf Magnetbändern gespeichert, wiederholt und neu gestaltet werden. Es ist, als wäre das Leben eine einzige Aufnahme, später eine Wiederaufnahme, die abermals einer Aufnahme gleichkommt. Wie ein akustischer Spiegel im Spiegel im Spiegel. Das erinnert an Krapp aus Samuel Becketts „Das letzte Band“, nur ist es sehr viel optimistischer. Wiederholung schließt bei Häusermann die Möglichkeit mit ein, es anders, vielleicht sogar besser zu machen.

Im zweiten Teil der Trilogie „Long-Slow-Fade“ erfährt die Provinz eine Umdeutung zum Hort abseitiger Kreativität. In einem biederen, aber musikalisch exzessiv bestückten Wohnzimmer, das nur in Häusermanns Geburts- und Wohnort Lenzburg im Aargau versteckt sein kann, wissen Hans und Paul noch nicht, dass die Beatles schon Geschichte sind. „Al-al-al-al-al-al-al-duscht-eh“ wird zum Knüller, wenn man das Band rückwärts laufen lässt. So reiht sich Anekdote an Zote, und alles fügt sich zum Kreuzworträtsel für Bärtige, das zu guter Letzt beim Dorffest mit Musik und Tanz endet.

Mit mehr Strenge serviert wird „Väter Unser“, das die Bayerische Staatsoper München koproduziert hat. „Es kann doch nicht immer so bleiben“, singen Häusermann und seine multiinstrumentalen Mannen Martin Hägler, Theodor Huser und Philipp Läng hinter der Tribüne. Was in den nächsten zwei Stunden, den spannendsten der Trilogie, auf der riesigen weißen Fläche variiert wird, ist das geheime Leitmotiv aller drei Arbeiten: das Leben als eine Balance zwischen Tradition und Innovation. Um es mit den Mitteln eines Häusermanns auszudrücken: zwischen Aufnahme, Abspielen, Wiederaufnahme.

Die vier Herren tragen eine Art von Helmen mit Mikrofonen, die wie Seilbahnmasten Drähte stützen können und zu Sound verarbeiten. Ob Eisenstangen auf dem Kopf oder das Bemalen von Blechen: Jedes Zeichen, jede Bewegung an diesem Abend wird sofort in Klang überführt. Als wären nicht nur die Beatles, sondern die Avantgarde überhaupt in Lenzburg geboren.

Die Pastorale ist in Martin Crimps „Auf dem Land“ ein Problem und nicht Ort fruchtbarer Auseinandersetzung. Mit „Angriffe auf Anne“, einer postmodernen Identitäts-Bricolage, gelang Crimp im deutschsprachigen Raum der Durchbruch. Sein neues Stück erzählt hingegen fast linear und konventionell und handelt doch vom Gleichen: Das Ehepaar Richard und Corinne und die Studentin Rebeccas wissen schließlich auch nicht, wer sie denn sind. Oder je mal waren. Rebecca (Anna Böger) taucht in Corinne und Richards Landhaus auf und bestimmt diesen Familienraum in kürzester Zeit. Daphne du Maurier, respektive die frühe Hitchcock-Verfilmung von „Rebecca“ müssen gemeint sein, spätestens nachdem ein Perückenwechsel hin zu blond und goldene Schuhe an Corinne aus der Ehefrau eine Märchenfigur basteln wollen. Eine Figur – wie immer – aus Heiliger (Ehefrau) und Schlampe (Studentin und Lover).

Was kompliziert, weil arg tiefenpsychologisch, klingt, führt Bondy klar und scharf vor. Susanne Lothar als Corinne live leiden zu sehen, ist zwar ein voyeuristischer Genuss, aber das ist psychologisches Theater immer. Und der Stadtmensch im Theater freut sich auch darüber, dass das mit archaischen Fantasien projizierte Land als solches kenntlich gemacht wird. Aufs Land flüchtet man nämlich nur vor sich selbst, trügerisch, trügerisch! – so zumindest liest sich Wilfried Minks’ schöne, aber wie das Stück auch einfach gedachte Bühne mit dem kleinen Modellidyll hinten links und den verstreuten Daunen fürs Kuscheln.

TOBI MÜLLER

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