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Er hatte einen Traum

Jacques Derrida erhielt in Frankfurt den Theodor-W.-Adorno-Preis. Der französische Denker bekannte erstmals, wo seine Sympathien für den Namensgeber des Preises liegen

Der 11. September ist der Geburtstag Theodor W. Adornos. Petra Roth, die Frankfurter Oberbürgermeisterin, erinnerte daran, als sie die Gäste in der Paulskirche begrüßte, um später Jacques Derrida den mit 100.000 Mark dotierten Adorno-Preis der Stadt zu überreichen. Aber wo zwei oder drei in diesen Tagen versammelt sind, da sind die Anschläge von New York und Washington mitten unter ihnen. Indem sie das gemeinsame Datum von Terror und Philosophengeburtstag erwähnte, erinnerte die Politikerin, ohne es auszusprechen, auch daran, wie schmerzhaft die Erfahrung radikaler Kontingenz sein kann.

Die Anschläge veranlassten Derrida, diesen Meister der Arabeske, zu so scharfen, emphatisch vorgetragenen Sätzen, dass man im Sessel zusammenzuckte: „Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an die politische Unschuld von niemandem. Und wenn mein Mitgefühl, das allen unschuldigen Opfern gilt, grenzenlos ist, dann, weil es auch bei denen nicht endet, die am 11. September in den Vereinigten Staaten den Tod gefunden haben. Das ist meine Interpretation dessen, was jene Gerechtigkeit sein müsste, die der vom Weißen Haus ausgegebenen Parole zufolge seit einigen Tagen ‚grenzenlose Gerechtigkeit‘ heißt: Von den eigenen Fehlern, dem eigenen Unrecht, den Irrtümern der eigenen Politik sich nicht freisprechen, und sei es auch in dem Augenblick, da man den furchtbarsten Preis für sie zahlt.“ Zustimmender Applaus im Publikum.

Würde ein Politiker mit der Wendung zitiert, die USA möchten, auch wenn sie dafür gerade bluteten, ihre eigenen Fehler doch bitte nicht vergessen – er hätte ein Problem. Er wäre, gemäß der martialischen Freund-Feind-Rhetorik des amerikanischen Präsidenten, auf der falschen Seite. Nun saß in der Paulskirche aber kein Parlamentsplenum, und der Redner verlas auch kein politisches Manifest. Vielmehr hörte man einen jener philosophischen Vorträge Jacques Derridas, die von der Singularität ihres mittlerweile 71-jährigen Autors zeugen: Noch auf der Ebene der direkten politischen Intervention weicht er einer unaufhebbaren Spannung nicht aus. Noch frappierender war aber dies: Derrida hatte seinem Manuskript den Kommentar zum 11. September nachträglich hinzugefügt, und doch war die entsprechende Passage bruchlos in den Text integriert. Man mag das damit erklären, dass ein Denken wie das von Derrida gewissermaßen auf den Ausnahmezustand vorbereitet sei, man kann sich aber vorerst damit begnügen, einmal mehr seine stilistische Brillanz zu bemerken: Mehrere Fäden, rot sind die meisten, kunstvoll ineinander verwoben, und am Ende wirkt die Textur, als hätte sie niemals anders aussehen können.

Unmittelbar zuvor hatte er von der – auch politischen – Verantwortung gesprochen, die deutsche und französische Philosophen zu teilen hätten, von Diskussionen um das, wofür beide auch politisch „gemeinsam Partei zu ergreifen“ hätten, ja er postulierte die Pflicht, die Politik einer „dekonstruktiven Kritik“ zu unterziehen – obwohl er keine fünf Minuten zuvor „deutsche“ Kritik und „französische“ Dekonstruktion einander gegenübergestellt hatte. Für sich genommen klingen solche Sätze ein wenig nach dem abgestandenen Charme, den die deutsch-französische Freundschaft der Politiker-Politik so oft verbreitet; in der Paulskirche waren sie eine gehaltvolle Versöhnungsadresse. Schließlich ist die jüngste intellektuelle querelle franco-allemande so alt noch nicht, diese, „Verkennungsgeschichte“ (Süddeutsche Zeitung) zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, Paris und Frankfurt. Einer ihrer Protagonisten saß in der ersten Reihe: Jürgen Habermas, der, als er einst selbst den Adorno-Preis erhielt, in der Paulskirche eine Art Bannfluch über die „Jungkonservativen“ und ihren „Antimodernismus“ verlas – ausdrücklich gemeint war Derrida. Alles vergessen heute? Solche „Missverständnisse [haben] sich heute zwar nicht völlig in Luft aufgelöst, aber doch in einer Atmosphäre freundschaftlicher Versöhnung an Schärfe verloren“, so Derridas weniger direkte Formulierung.

Seine Frankfurter Rede nutzte Derrida auch dazu, sein eisiges Schweigen dem Werk Adornos gegenüber zu brechen. Kaum verwunderlich, dass er vor allem dessen Liebe zur Sprache als Gemeinsamkeit herausstellte. Er zitierte aus der Antwort des nach Frankfurt zurückgekehrten Exilanten auf die Frage „Was ist deutsch?“ und leitete auch daraus eine politische Zuspitzung ab: Wie lässt sich „die sprachliche Differenz retten“, wie „der internationalen Hegemonie einer Verständigungssprache Widerstand leisten (. . .) – ohne darum dem Nationalismus, der Feier des Nationalstaats oder der nationalstaatlichen Souveränität das Feld zu überlassen“? Im Publikum heftiger Applaus eines Einzelnen.

Wie um jene „lieben Freunde“, die ihn einst mit dem Vorwurf des Irrationalismus belegten, noch einmal zu kitzeln, tauchte Derrida seine Rede in das Medium des Traums: die Lektüre eines Traums von Walter Benjamin, der eigene Traum von der Sprache der Dichter, die Skizze eines erträumten Buches, der mäandrierende Duktus seines Vortrags. Auch hier ruft er den Autor der „Minima Moralia“ als Zeugen – „diese Aufklärung eines träumenden Diskurses über den Traum ist es, bei der ich gerne an Adorno denke“. Und doch bleibt ein anderer Adorno, der Autor der „Negativen Dialektik“, an diesem freundlichen Samstagabend beinahe abwesend. Es war Bernhard Waldenfels, der festhielt, dass die Dekonstruktion in ihrem Kern weder negativ noch dialektisch ist. Vielleicht, so formulierte er in seiner Laudatio, vielleicht wäre Derrida doch eher mit Freiburg als mit Frankfurt zu assoziieren. Oder, ohne Metonymien gesagt – wirklich ohne? – : eher mit Heidegger als mit Adorno. Aber das ist eine andere Geschichte. RENÉ AGUIGAH

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