Die reinsten Herzen schlagen woanders

Das Düsseldorfer Schauspielhaus startet mit modischen Extremen: Melodramatisch, um nachgerade viktorianisches Theater wieder zu beleben, mit „Dancer in the Dark“. Minimalistisch mit Jon Fosses Beziehungsdrama „Da kommt noch wer“, in dem ein Paar am nächstbesten Dritten scheitert

von MORTEN KANSTEINER

Die große Zeit des Melodrams, sollte man meinen, ist vorbei. Die Zeit, als man sich im Kulturbetrieb Gehör verschaffen konnte, indem man von armen, reinen Frauen erzählte, die ihrem Herzen folgend in den Tod gehen. Auf viktorianischen Bühnen hatten solche Geschichten einen festen Platz, gewiss, und auch noch im Stummfilm. Aber inmitten der Ironie der Pop-Moderne sind sie kaum vorstellbar.

Umso spektakulärer geriet der Auftritt der Heldinnen des Lars von Trier. Erst opferte Bess in „Breaking the Waves“ ihr Leben für die wundersame Heilung ihres Ehemanns. Dann ging Selma als „Dancer in the Dark“ für das Augenlicht ihres Sohnes in den Tod. Und selbst hartherzige Kulturhüter waren ergriffen.

An diesem Kunststück versucht sich jetzt auch das Düsseldorfer Schauspielhaus. Burkhard C. Kosminski, der vor einem Jahr den Dogma-Film „Das Fest“ für das Theater Dortmund adaptierte, hat sich in Düsseldorf an „Dancer in the Dark“ gewagt. Obwohl ihm auf der Bühne die Mittel, mit denen von Trier das Melodram in die Gegenwart gleiten ließ, nicht zur Verfügung stehen. Weder die hypnotisierenden Großaufnahmen, noch der nüchterne Hyperrealismus des Settings. Auch nicht die Handkamera, die den Kitsch immer wieder mit einem gezielten Ruck aus dem Bild stößt. Trotzdem lassen die ersten Minuten der Inszenierung glauben, Kosminski hätte zusammen mit Florian Etti (Bühne) und Hans-Joachim Börensen (Licht) die passenden Bühnenmittel gefunden. Da beginnen weit hinten die Streichinstrumente der Liveband zu leuchten, während aus dem Schnürboden nach und nach ein gutes Dutzend metallischer Stangen herabsinkt. Bläulich angestrahlt, schieben sie einen Riegel vor den warmen Schein des Holzes. Der kahle Bühnenraum wird zum Pathosträger.

Auch später gelingt das für Augenblicke. Mehr Zeit vertut die Inszenierung aber damit, Dialoge abzuhaken. Selmas Gerichtsverhandlung etwa: Ein Zeuge nach dem anderen trägt seine Aussage vor, eine zähe Folge ohne Form, obwohl der Staatsanwalt sich wild ins Plädoyer wirft. Auch die Musicalelemente bringen keine Rettung. Die Schauspieler werden zwar durch ein Tanzensemble verstärkt, aber es ist unverkennbar: Singen und Tanzen sind nicht ihr Job.

Es bleibt: die Geschichte. Eine reine Frau arbeitet bis zum Umfallen, um die Augen ihres Sohnes operieren zu lassen. Ihr Nachbar stiehlt das Ersparte. Sie kämpfen, er kommt um – halb zog sie ihn, halb sank er hin. Sie wird verurteilt und – weil der Augenarzt, und kein Anwalt ihr Geld bekommen soll – schließlich auch gehängt. Ende. Rechts und links reiben Düsseldorfer Damen Tränen in die Abendgarderobe. Hartherzigere fragen sich, warum die kommerzielleren Künste das Genre haben entkommen lassen.

Auf neoviktorianische Empfindsamkeit folgt hochmoderne Kühle. Jon Fosses „Da kommt noch wer“, die zweite Premiere zum Düsseldorfer Saisonauftakt, beschränkt sich auf ein Minimum an Geschehen: Ein Paar nimmt Besitz vom neuen Heim; sie treffen einen Dritten; Ende. Hier wird nicht aufgeopfert, hier wird geredet. Und selbst das nicht sehr viel. Denn der Text ist kurz, das Schweigen tief, und die Worte wiederholen sich – wie auch in anderen Stücken des modischen Norwegers. Immer wieder beschwört das Paar seine Zweisamkeit: „Du und ich allein / bei dem Haus / wo du und ich allein sein werden / alleine / miteinander.“ In Wellen kehrt das Motiv wieder, bis in die letzten Zeilen.

In diesen Wiederholungen fächert die Inszenierung von Jürgen Gosch – die deutschsprachige Erstaufführung – Schattierungen auf. Wenn Michael Abendroth als „Er“ die Worte „Da kommt wer“ zum ersten Mal als klare Aussage artikuliert, haben wir sie schon dutzende Male gehört, von ihm und von seiner „Sie“, von Myriam Schröder – aber immer gebrochen: im Ton der Beschwörung, der Verschwörung, der Ahnung. Jetzt, plötzlich, scheint von ihnen eine echte Gefahr auszugehen.

Und tatsächlich kommt noch wer in das alte Haus am Meer: Der ehemalige Besitzer schaut vorbei. Thomas Dannemann zeigt ihn von der liebsten Seite, ganz arglos. Er weicht die Konsonanten von Fosses klirrender Poesie ein klein wenig auf und setzt Lacher wie Luftlöcher. Ein vollkommen harmloser Kerl, aber genug, um Reflexe der Eifersucht auszulösen. Ganz auf die Zweisamkeit fixiert, scheitert das Paar am erstbesten Dritten.

Am Schluss bleibt der Klang der Resignation. Noch einmal hebt „Er“ an: „Allein miteinander / allein beieinander.“ Aber das ist bloß ein kraftloses Echo. Die Worte haben auf der Probe gestanden und ihr Versprechen verloren. In gut einer Stunde, in einem eleganten, äußerst präzisen Prozess. Rührung kommt da nicht auf, aber auch keinerlei Zweifel, das Geschehen könne an den falschen Ort geraten sein.