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Vom Schatten des Todes in der Fotografie

Nur die Falten leuchten: Mit einer Großbildkamera und einem speziellen System lichthauerischer Beleuchtung porträtierte Tom Fecht ein Jahr vor ihrem Tod Gisèle Freund. Seine „en face“-Studien der Grande Dame der französischen Fotografie zeigt jetzt das Museum der Dinge im Martin-Gropius-Bau

von YVES ROSSET

Das Bild zeigt eine alte Frau. Sie sitzt allein und hat ihren Spazierstock neben sich gelegt. Sie scheint sich auszuruhen oder auf irgendetwas zu warten, bevor sie ihren Weg fortführen wird. Um sie herum aber ist nichts zu sehen, keine Landschaft, kein Interieur, kein Leben. Außer den Falten in ihrem Gesicht, einer Welle in ihrem Haar leuchtet nichts. Alles um sie herum ist schwarz, nicht nur wie beim Hell-Dunkel-Effekt der Malerei, sondern schwarz wie die Farbe des Todes, an den die alte Frau vielleicht in diesem Augenblick gedacht hat.

Dass sie daran gedacht hat, ist plausibel. Das Bild wurde von dem Fotografen und Bildhauer Tom Fecht am Nachmittag des 18. März 1999 in seinem Pariser Atelier in Montparnasse aufgenommen. Die Frau, die er zu einer Porträtsitzung eingeladen hatte, war die 1908 in Berlin geborene Gisèle Freund. Sie starb ein Jahr später, im März 2000. Die Serie von Porträts und fotografischen Studien, jetzt zu sehen in der Ausstellung „En face – Gisèle Freund, fotografiert von Tom Fecht“ im Museum der Dinge, liefert die letzten Bilder, die es von der Grande Dame der französischen Fotografie gibt.

Vielleicht ist es wegen der allzu bohrenden und erschreckenden Aktualität oder einfach weil Gisèle Freund doch noch nicht so lange tot ist: Unbestreitbar ist jedenfalls, dass das, was bei der Ansicht der Bilder vor allem auffällt, die unheimliche Präsenz des Lebens in den Aufnahmen dieser Frau ist. Dass diese heute nicht mehr trinkt, lacht, sich erschreckt, vielleicht träumt oder noch die Zunge heraustreckt, wie es die Aufnahmen von Fecht zeigen, scheint unfassbar, so sehr vertraut wirkt sie im Augenblick der Betrachtung.

Dass ein solches Gefühl entsteht, hängt freilich nicht nur mit der Magie der Fotografie oder mit der Tatsache zusammen, dass das Gesicht von Gisèle Freund mit einigen Ausnahmen (die Doppelporträts mit Nina Beskow zum Beispiel, der langjährigen Freundin und Vertrauten) dem Besucher als einziges Motiv immer wieder begegnet. Es sind vor allem die von Fecht benutzte Großbildkamera und seine systematische Anwendung einer quasi „lichthauerischen“ Beleuchtung – den Neologismus benutzte Freund selbst, als sie die fotografische Handschrift von Fecht beschrieb –, die den Blick so dicht an die Intimität des zur Landschaft gewordenen Gesichts heranrücken.

Von dort geht die magnetische und ungebärdige Kraft der Bilder aus: Was für ein Gesicht hatte diese Frau! Die stark konturierten Falten und Linien ähneln denen einer Indianerin, wie auf einem Porträt von Edward S. Curtis. „Eine meiner Urgroßmütter war der klassische Typ einer amerikanischen Indianerin“, wird Gisèle Freund denn auch auf einem Begleitschild zitiert: „Der Großvater meiner Mutter hat tatsächlich den Atlantik überquert. Als Goldsucher hatte er sich mit einer Indianerin verheiratet, die er später mit nach Deutschland zurückgebracht hat. Einige Mitglieder meiner Familie haben mir wiederholt bestätigt, dass ich etwas vom Gesicht dieser Ahnin hatte.“

Obwohl es sich in „en face“ um die Kreuzung zweier künstlerischen Biografien handelt, geht die Ausstellung über eine schlichte hommageartige Umkehrung der Rollen hinaus – die große Porträtistin von Cocteau, Beckett, Benjamin, Malraux and Co, die sich selbst ungern fotografieren ließ und dennoch vor der Kamera posiert. Tom Fecht hat seine fotografischen Studien über drei Räume inszeniert, die unterschiedliche Annäherungen an die Person Gisèle Freund erlauben.

Während zum Beispiel zwei großformatige Landschaftsaufnahmen der Kreidefelsen auf Rügen an ihre Kindheit erinnern (das entsprechende Gemälde Caspar David Friedrichs war damals im Besitz ihres Vaters), zeigt ein kleiner Lichtkasten schwarzweiße Dias, die loopartig im schnellen Rhythmus projiziert werden. Die insgesamt 80 überbeleuchteten und unscharfen Aufnahmen von Fecht dokumentieren die Beisetzung der Urne von Freund auf einem Friedhof in Montparnasse. Man sieht trauernde Gäste, ins Grab geworfene Rosenblätter. Dazwischen auch mehrere Bilder von Friedhofsangestellten: ein junger, schöner Mann, der das dunkle Loch des Abschieds mit hellen und glatten Grabplatten zuschließt. Schlichte Aufnahmen für einfache Gesten. Nur der Tod und sein Schatten in der Fotografie bleiben weiter rätselhaft.

Bis 8. 11., Mi.–Mo. 10–20, Sa. 10–24 Uhr, Museum der Dinge im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Kreuzberg

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