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Für Arbeit geht sie über Leichen

■ Neu im Kino: „Rosetta“ von Luc & Jean-Pierre Dardenne. Ein belgisches Sozialdrama mit einer schön-lumpigen Hauptfigur

Immer öfter zeigt uns das französischsprachige Kino schöne, junge Schauspielerinnen in Lumpen: Sandrine Bonnaire in Agnés Vardas „Vogelfrei“ und Juliette Binoche in Léon Carax „Die Liebenden von Pont Neuf“ sehen so unglamourös wie nur möglich aus und wirken wie absurde Zuspitzungen von Truffauts Maxime, das Kino sei dazu da, „schöne Frauen in interessanten Situationen zu zeigen“.

Die beiden belgischen Filmemacher Luc und Jean-Pierre Dardenne stehen mit „Rosetta“ in dieser Tradition, denn die zur Drehzeit 17jährige Emilie Dequenne rennt so abgerissen, ungekämmt und lehmbespritzt durch den Film, dass man das Elend dieser Filmfigur im Kino fast zu riechen glaubt. Sie hetzt durch die Geschichte, gönnt sich keine Ruhe auf ihrer Jagd nach „anständiger Arbeit“, denn die scheint das Einzige zu sein, das sie sich zu wünschen traut. Zum Beginn des Film verliert sie ihren Aushilfsjob, schreit ihren Chef an, klammert sich an die Werksmaschinen und muß schließlich von Polizisten aus dem Fabrikgebäude gezehrt werden.

Die Handkamera klebt dabei immer ganz nah an ihr, ist fast subjektiv mit dem Blick über ihre Schultern, geht nur dann ein bisschen auf Abstand, wenn wir sie aus einer anderen Perspektive besser sehen können. Aber Rosetta ist in den 90 Minuten des Films immer im Bild, und so sind wir diesem verzweifelten, ruhelosen Mädchen ständig so nah, wie es im Kino nur möglich ist.

„Rosetta“ ist alles andere als leichte Kinokost. Die beiden ehemaligen Dokumenstarfilmer beschreiben hier ein alltägliches Unglück extrem intensiv und authentisch. Gedreht haben sie im südbelgischen Kohlenpott von Lüttich, wo ein Schicksal wie das von Rosetta eher die Regel als die Ausnahme ist. Sie wohnt mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter im Wohnwagen auf einem Campingplatz, beide leben von der Hand in den Mund. Die Mutter ist schon lange zu einer Gelegenheitsprostituierten heruntergekommen und Rosetta will unbedingt ehrlich bleiben und eine „richtige“ Arbeitsstelle haben, denn sie sieht genau den existentiellen Abgrund, der vor ihren Füssen klafft. Für Arbeit geht sie über Leichen – beinahe zumindest! Ihren Freund Riquet lässt sie fast ertrinken, weil sie weiß, dass sie seine Arbeit als Waffelverkäufer erben könnte. Kurz darauf verpfeift sie seine kleinen Schummeleien hinterrücks bei seinem Chef und bekommt seinen Job. Erst danach kann sie sich den Luxus leisten, Schuld zu empfinden: Brechts Prämisse „Erst das Fressen und dann die Moral“ ist selten so radikal in Szene gesetzt worden.

„Rosetta“ ist ein kompromissloser, präzise beobachteter und (trotz seiner vermeintlichen Kunstlosigkeit) in der Wirkung genau kalkulierter Film. Er beklagt nie diffus das Elend der Welt – deshalb kann und will man ihn sich auch bis zum Ende ansehen, auch wenn er einem näher geht, als manchem lieb sein wird. Aber alles an ihm wirkt wahrhaftig, und Emilie Dequenne verkörpert die Rosetta so extrem, uneitel und lebendig, dass man ihr so nahe kommt wie nur wenigen Filmfiguren in der letzten Zeit. Film und Hauptdarstellerin wurden 1999 in Cannes mit Goldenen Palmen ausgezeichnet. Eine damals umstrittenen Entscheidung, aber wenn man den Film gesehen hat, kann man nachvollziehen, warum er den Jury-Präsidenten David Cronenberg „in Aufregung und Euphorie“ versetzt hat.

Wilfried Hippen

„Rosetta“ läuft mit Untertiteln von heute bis Sa. um 20.30 Uhr im Kino 46

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