In der 30-Kilometer-Zone

In Deutschland beantragen jährlich 5.000 Afghanen Asyl. Eine Chance, darum zu bitten, haben die Flüchtlinge nur, wenn ihre Schleuser sie an allen Kontrollen vorbei über die grüne Grenze bringen

Hierher schaffen es die Intellektuellen und Angehörigen der Mittelschicht

von HEIKE KLEFFNER

Acht Monate hat Amanullah Torkany für den Weg von Afghanistan nach Deutschland gebraucht. Gemeinsam mit seiner schwer kranken Ehefrau und den beiden jüngsten Söhnen hatte sich der Diplomingenieur im Frühjahr vergangenen Jahres zur Flucht entschieden, um seiner drohenden Inhaftierung durch die Sicherheitskräfte des Taliban-Regimes zu entkommen. Im November 2000 erreichte die Familie schließlich die Endstation ihrer unfreiwilligen Reise. „Wir wussten gar nicht so genau, in welchem Land wir sind, als die Polizisten uns festnahmen“, berichtet der 52-jährige Familienvater.

Beamte der Sonderermittlungsgruppe „AG Schleuser“ beim Polizeipräsidium Potsdam fanden die Torkanys in der Nähe einer brandenburgischen Kleinstadt. Was dann folgte, lässt sich kaum als gastfreundliche Aufnahme bezeichnen. Die erste Nacht musste die Familie in einer Arrestzelle auf dem nackten Steinfußboden schlafen, erzählt Amanullah Torkany. Der Vorwurf: „illegale Einreise“. Dann kam die Trennung. Den 14-jährigen Sohn brachten die Behörden in einem Heim für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in Fürstenwalde unter, sein 16-jähriger Bruder und die Eltern kamen in die Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt. 14 Tage lang waren sie dort in Einzelzellen inhaftiert. „Während dieser Zeit wurde offenbar über eine Rückschiebung der Familie nach Polen verhandelt“, vermutet Simone Tetzlaff vom Brandenburgischen Flüchtlingsrat.

Die Torkanys hatten Glück. Sie waren außerhalb der 30 Kilometer ins Landesinnere reichenden Grenzzone aufgegriffen worden. Eine Rückschiebung in einen der so genannten „sicheren Drittstaaten“ wie Tschechien oder Polen war damit nahezu unmöglich geworden. Zumal sie, wie alle so bezeichneten „illegalen Grenzgänger“, über ihre genaue Fluchtroute und ihre Fluchthelfer schwiegen. Letzter Halt ist oft eine Tankstelle an den Autobahnen A 10 oder A 13, wo die Flüchtlinge ausgesetzt werden. Beim brandenburgischen Innenministerium erfährt man, dass die meisten Einsätze der „AG Schleuser“ aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung erfolgen: Bürger, die zum Telefon greifen, wenn sie dunkelhäutige, orientierungslose Menschen auf den Straßen sehen.

Wie viele afghanische Flüchtlinge gar nicht erst so weit kommen, sondern im „grenznahen Bereich“ festgenommen werden und sich nach einer Nacht beim Bundesgrenzschutz erneut auf der anderen Seite von Oder und Neiße wiederfinden, ist unbekannt. Auch die Zahl derer, denen nach einem Aufgriff durch den Bundesgrenzschutz oder die „AG Schleuser“ nachgewiesen werden kann, dass sie über den „sicheren Drittstaat“ Polen einreisten, lässt sich kaum nachvollziehen. Für manche endet der Versuch, die Grenzflüsse zu überqueren, tödlich: Eine Dokumentation der Antirassistischen Initiative e. V. aus Berlin zählt allein in den Monaten Juni bis September 1997 fünf Afghanen, die in der Neiße ertranken. Eine Chance, in Deutschland um Asyl zu bitten, haben die Flüchtlinge nur, wenn die Schleuser sie an allen Kontrollen vorbei aus der 30-Kilometer-Zone bringen.

Amanullah Torkany sagt, er habe das magische Wort „Asyl“ unzählige Male im Laufe der zweiwöchigen Abschiebehaft genannt. Als nichts passierte, wurde er panisch. Gesteigert wurden die Stresssymptome, weil er sich allenfalls zwei Stunden am Tag außerhalb der Einzelzelle aufhalten durfte und keinerlei Informationen über den Verbleib seines jüngsten Sohnes hatte. Medikamente, um die er wegen seiner zunehmenden Schlaflosigkeit bat, seien ihm im Dunkeln und im Beisein von drei Wächtern der Wachschutzfirma BOSS, die die Abschiebehaftanstalt in Brandenburg betreibt, verabreicht worden. Was er zu schlucken bekam, weiß Amanullah Torkany bis heute nicht. Der Höhepunkt der Demütigungen für den gläubigen Muslim seien allerdings die ständigen Leibesvisitationen gewesen, denen auch seine Ehefrau unterworfen wurde.

Simone Tetzlaff hält es für „einen Skandal“, dass die Torkanys überhaupt im Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt landeten. Sie verweist darauf, dass es wegen fehlender Flugverbindungen seit 1999 – als das brandenburgische Innenministerium noch 32 Afghanen in ihr Heimatland zurückschob – keine Abschiebungen nach Afghanistan mehr gibt. Meldungen, wonach derzeit eine „Flüchtlingswelle“ aus Afghanistan auf Brandenburg zukomme, hält die Simone Tetzlaff für „schlicht übertrieben“. Diejenigen, die es bis nach Deutschland schaffen würden, seien zumeist monatelang unterwegs – zu Fuß, per Lastwagen oder Bahn legen sie tausende von Kilometern zurück und überqueren zahlreiche Landesgrenzen. Akute Krisen, wie der bevorstehende US-Militärschlag gegen Afghanistan und die panischen Versuche der Bevölkerung, das Land zu verlassen, schlagen sich zumeist erst Monate später in den Statistiken der europäischen Zufluchtsstaaten nieder.

3,5 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan hat das UNHCR registriert – die meisten von ihnen sind schon vor Monaten oder Jahren vor dem Taliban-Regime geflohen und leben nun unterhalb der Armutsgrenze in Lagern in den Nachbarstaaten Pakistan und Iran. „Nur wer in der Lage ist, einige tausend US-Dollar zu zahlen, schafft es bis nach Europa“, sagt Tetzlaff. Und das seien vor allem Intellektuelle und Angehörige der Mittelschicht. In Deutschland haben in den letzten Jahren jährlich knapp 5.000 Afghanen Asyl beantragt. Seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar diesen Jahres wird nun die Repression durch das Taliban-Regime als „quasi-staatliche Verfolgung“ anerkannt. Bis dato hatte Deutschland europaweit die niedrigste Anerkennungsquote für afghanische Asylbewerber. Während in Dänemark 72 Prozent den Status des politischen Flüchtlings erhielten, waren es in Deutschland gerade einmal 1,9 Prozent. Seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts steigt die Quote, zumal auch alte Fälle neu aufgerollt werden.

Nach Deutschland sind sie monatelang unterwegs. Zu Fuß, per Lastwagen oder Bahn

Beim Flughafen Sozialdienst in Schönefeld erfährt man, dass die „AG Schleuser“ die „illegal Eingereisten“ nach einer erkennungsdienstlichen Erfassung normalerweise zur ersten Übernachtung nach Schönefeld bringt – wie zum Beispiel die 18-köpfige afghanische Gruppe, darunter Frauen und Kinder, vor zwei Wochen. Die nächste Station ist dann die Zentrale Erstaufnahmestelle (ZABH) Eisenhüttenstadt, die sich direkt neben dem Abschiebegefängnis befindet. Von dort aus werden die Asylsuchenden entweder auf andere Bundesländer oder in brandenburgische Flüchtlingsheime verteilt.

Nach Angaben des Potsdamer Innenministeriums leben derzeit insgesamt 477 Afghanen in Brandenburg. Nicht immer sind sie hier wirklich in Sicherheit. So wurde im März letzten Jahres ein 22-jähriger afghanischer Asylbewerber in Mögelin in einer Telefonzelle rassistisch angepöbelt und dann geschlagen. Im Februar dieses Jahres ordnete das Verwaltungsgericht Potsdam die Umverteilung einer afghanischen Familie an, die in Schwedt über einen Zeitraum von zwei Jahren von Rechten drangsaliert worden war.

Für die Familie Torkany hat sich das Leben inzwischen allerdings zum Besseren gewendet. Ein Dreivierteljahr nach der Entlassung aus der Abschiebehaft wurde ihr Asylantrag positiv entschieden. Amanullah Torkany hat mit dem Status als anerkannter politischer Flüchtling auch eine Arbeitserlaubnis erhalten und kann jetzt auf Jobsuche gehen. Die beiden Söhne gehen in Hennigsdorf zur Schule. Und die Familie kann demnächst auch die Enge des Flüchtlingsheims Stolpe-Süd verlassen und sich eine eigene Wohnung suchen.