: Der Hase als rasender Rechner
Thomas Lüdtke soll am Sonntag beim Berlin-Marathon als laufender Computer für eine neue Weltbestzeit sorgen
BERLIN taz ■ Eine Stunde, neun Minuten und 30 Sekunden, sagt Thomas Lüdtke, und mit diesen drei Zahlen ist schon sein ganzer Job für Sonntag beim großen Berlin-Marathon beschrieben. „Den Rest“, glaubt der große, hagere Mann jedenfalls, „kann man sich leicht denken“, am besten, in dem man die Zeit verdoppelt. Zwei Stunden und 19 Minuten stünden dann zu Buche für die 42,195 Kilometer durch die Straßen Berlins, was eine weitere Schallmauer in der Welt des Sports würde fallen lassen: Noch nie ist es einer Frau gelungen, die Marathon-Distanz schneller als 2:20 Stunden zurückzulegen, nach wie vor wird die Weltbestzeit von der Kenianerin Tegla Loroupe gehalten und steht bei 2:20:23 Stunden, aufgestellt vor zwei Jahren – in Berlin. Loroupe ist auch diesen Sonntag wieder dabei. Sie und die japanische Olympiasiegerin Naoko Takahashi sollen sich gegenseitig ins Ziel in der Tauentzienstraße treiben – und, so ist es der Wunsch der Organisatoren, möglichst zu einer neuen Weltbestzeit.
Thomas Lüdtke wird dann nicht mehr mit im Rennen sein, sein Auftrag endet weit vorher, genauer gesagt zur Hälfte – und somit just in jenem Teil Berlins, der Hasenheide heißt, was für Lüdtke ein guter Ort ist, um seine Mission zu beenden: Schließlich ist der 35-jährige Berliner am Sonntag als Hase mit von der Partie, als einer jener Läufer also, die das richtige Tempo anschlagen sollen zur rechten Zeit, um den Topläuferinnen möglichst lange die Option offen zu lassen auf eine neue Rekordmarke.
„Das ist gar nicht so einfach“, sagt Thomas Lüdtke, der erstmals Hase ist in seiner mittlerweile 17-jährigen Läuferkarriere. „Wenn man das Rennen zu schnell angeht“, weiß er aus eigener Erfahrung, „kann es im letzten Drittel in die Binsen gehen. Wenn man am Anfang zu langsam ist, hat es sich eh schon erledigt.“ Letztlich ist es der Job des Hasen, genau das richtige Tempo zu treffen. Zumindest auf ebener Strecke können das Lüdtke und seine Hasen-Kollegen, allesamt erfahrene Läufer gehobener Güteklasse, ziemlich auf die Sekunde genau pro Kilometer. Das Problem: Kein Marathon dieser Welt verläuft topfeben, selbst die schnelle Strecke in Berlin nicht; Witterungseinflüsse wie Wind oder Regen erschweren den Auftrag zudem und können ihn schnell gänzlich zu nichte machen.
„Im Prinzip sind wir mitlaufende Computer“, sagt Lüdtke, rennende Rechenmaschinen, die einerseits die taktischen Pläne der Läuferinnen in die Tat umzusetzen und andererseits dafür zu sorgen haben, dass die Topathletinnen sich während des Rennens nicht weiter um Taktik und Tempo sorgen müssen, sondern den Kopf frei haben und sich ganz auf sich und ihren Körper konzentrieren können. „Wenn wir aus irgendeinem Grund auf einem Kilometer ein paar Sekunden zu langsam sind, müssen wir sehen, dass wir das auf den folgenden wieder aufholen“, sagt Lüdtke, der es als „so ne Art Auszeichnung“ empfindet, überhaupt Hase sein zu dürfen für zwei so namhafte Läuferinnen. Ihre Vorgaben erhalten er und seine Kollegen von den Athletinnen selbst. „Wir machen, wie es die beiden Damen wollen“, sagt Maik Milde, beim Berlin-Marathon für die rennenden Mümmelmänner verantwortlich und somit quasi Hasenstallbesitzer: „Die Frauen geben die Zwischenzeiten vor, und die Hasen müssen sie umsetzen.“
Was vor allem auf den ersten Kilometern mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein kann, was schnell der Fall ist, wenn ein paar tausend Läufer sich zur gleichen Zeit ins Rennen werfen und ein paar von ihnen nur ein Ziel haben: Als Schnellster bei Kilometer 3,2 anzukommen und somit derjenige zu sein, der als Erster durchs Brandenburger Tor stürmt. Da kann es schon die ein oder andere rüde Rempelei geben, was die Hasen dann zu Bodyguards werden lässt, zu so genannten Guard-Runners. „Da müssen wir den Frauen dann den Weg bahnen und sie schützen“, sagt Lüdtke, weshalb pro Athletin gleich drei oder vier Hasen zu Verfügung stehen, die keine Hasenfüße sein dürfen und keineswegs nur vorneweg laufen, sondern auch neben und hinter den Athletinnen, als eine Art Schutzschild, zumindest auf den ersten Kilometern. Dann ist dieses nicht mehr erforderlich, weil sich das Feld entzerrt hat und all die Hobbyläufer abgeschüttelt sind, die sich bisweilen um die Topfrauen drängen, um auch einmal von einer der begleitenden Fernsehkameras getreift zu werden. Spätestens nach sieben, acht Kilometern ist von ihnen nichts mehr zu sehen, weil das Tempo für sie viel zu schnell ist und nur noch männliche Spitzenkräfte mit den Frauen mithalten können.
Selbst Hase Lüdtke, der täglich trainiert und schon norddeutscher Meister über 5.000 und 10.000 Meter sowie im Marathon war, würde nicht bis ins Ziel Tekla Loroupe oder Naoko Takahashi Paroli bieten können. „Das schaffe ich einfach nicht“, gibt sich der 35-jährige Berliner da erst gar keiner Illusion hin, schießlich steht seine Marathonbestzeit bei „nur“ 2:27 Stunden. Aber letztendlich ist das auch nicht des Hasen Auftrag, sondern die 1:09:30 Stunden zur Halbzeit. „Den Rest müssen die Frauen ganz allein machen“, sagt Thomas Lüdtke – ohne seine Hilfe. Er selbst will dann nämlich ein bisschen verschnaufen und auf seine ebenfalls startende Freundin warten, um gemeinsam mit ihr in Richtung Ziel zu hoppeln. FRANK KETTERER
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