: Implodierendes Chaos
■ Der tschechische Autor Jachym Topol im Literaturhaus
Sein Thema sei das „Raubtier Freiheit“, haben etliche über Jachym Topols Werke gesagt. Er widme sich mit Akribie dem Chaos, das nach 1989 über Osteuropa hereingebrochen sei. Und er habe dabei Realität und Wahn geschickt vermischt, um diese Implosion plausibel zu machen. Und genau das hat er auch getan in seinen Romanen, deren erster – Die Schwes-ter – 1993 während eines Deutschland-Stipendiums entstand, nachdem Topol sich lange mit Gedichten begnügt hatte. Doch seine Prosa traf: Binnen kürzestem avancierte der 1994 edierte Romanerstling zum Bestseller und machte den 1962 geborenen Tschechen, der jetzt im Literaturhaus liest, international bekannt.
Die idealistischen, aber hilflosen Versuche des Protagonisten Potok, eine dem Nachwende-Chaos standhaltende Organisation zu gründen, die schnell zur kriminellen Gang wird, sind Thema des Buchs. Der Radius des Geschehens ist riesig und reicht von Berlin über Auschwitz bis nach Galizien, spielt auch mal im Prager Underground: Topol beschreibt alle Schauplätze mit der gleichen Respektlosigkeit.
Respektlos war auch das Regime mit Topol umgegangen, dessen Vater die Charta 77 unterschrieb und der zur Strafe als Nachtwächter und Fensterputzer arbeiten musste. Eine Stigmatisierung, die auch die Söhne Jachym und Filip traf, die ab sofort „für die Nachbarn unsichtbar“ wurden, von den Lehrern schikaniert und nur noch vom Geheimdienst beachtet, wie der Autor erzählt. Jachym Topols Konseqenz: Die Herausgabe des Samisdat-Literaturmagazins Revolver Revue 1985 sowie – in den Jahren 1989 bis 1991– Reportagereisen in internationale Krisengebiete für die von ihm mitbegründete Wochenzeitung Respekt. Mit dem Dichten hat er in den 90ern begonnen und dabei auch für seinen Bruder Filip, seit jetzt 20 Jahren künstlerischer Leiter der Rockband Psi Vojaci, getextet. Auch in Hamburg werden sie gemeinsam auftreten – Jachym, im Oktober Stipendiat der Stadt Hamburg, und Filip, Jahrgang 1965, der auch Die Schwester vertonte.
Was von dem Abend zu erwarten ist: vor allem die Spiegelung des Lebensgefühls einer Generation, die kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings eingeschult wurde, jahrzehntelang realsozialistischen Konformismus erlebte und 1989 das erfuhr, was der Kapitalismus Freiheit nennt. Und deren Defizite vom Osten aus ziemlich anders aussehen als von hier.
Petra Schellen
Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus
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