: Schleier der Verklärung
Vor dem letzten Qualifikationsspiel gegen Finnland ist die WM-Teilnahme der deutschen Fußballer ungewisser denn je. Gewiss scheint nur eine Sache: Rudi Völler bleibt der Hoffnung letzter Schluss
aus Gelsenkirchen MATTI LIESKE
Wenn die fußballerischen Dinge in einem Land ganz und gar nicht so laufen, wie man es sich vorgestellt hat, werden gern die großen Geister der Vergangeheit beschworen, um bei ihnen Trost und Hoffnung zu finden. In Deutschland braucht man den Geist nicht lange zu beschwören, denn er ist sowieso allgegenwärtig und heißt Franz Beckenbauer. Trost hat jedoch auch der kaum zu bieten vor dem letzten WM-Qualifikationsspiel der Gruppe 9 gegen Finnland, welches heute (16 Uhr, ZDF) in der neuen Gelsenkirchener Arena vonstatten geht. Dass die deutschen Fußballer erstmals aus sportlichen Gründen bei einer Weltmeisterschaft fehlen könnten, sei für ihn zwar unvorstellbar, ließ Beckenbauer wissen, nichtsdestotrotz aber „realistisch“. Zu deutlich hat er wohl noch in Erinnerung, wie die Stürmer Schewtschenko und Rebrow vom wahrscheinlichen Relegationsgegner Ukraine vor einigen Jahren im Trikot von Dynamo Kiew die Abwehr seiner Münchner Bayern durcheinander gewirbelt hatten.
Dem deutschen Fußballkaiser graust es inzwischen sogar vor den Finnen, eine Demut, wie sie hierzulande noch vor einigen Wochen, vor dem dramatischen 1:5 gegen die Engländer, kaum denkbar gewesen wäre. Da galt die WM-Qualifikation als nahezu perfekt, der Titelgewinn 2006 im eigenen Land sowieso; was Spieler und Fans interessierte, war eigentlich nur die Höhe des erwarteten Sieges gegen England. Entsprechend verträumt und entspannt ging die Mannschaft in die Partie gegen die vom gewieften Fußball-Strategen Sven-Göran Eriksson perfekt eingestellten Briten.
Aber vielleicht wird ja doch noch alles gut. Der Fußball hat schon größere Sensationen gesehen als einen Patzer der punktgleichen Engländer gegen Griechenland bei gleichzeitigem deutschen Sieg gegen Finnland. Und wenn nicht, dann wird ja vielleicht die gefürchtete Ukraine noch von Weißrussland abgefangen, oder Schewtschenko und Rebrow können, wenn es im November um die Wurst geht, wegen irgendwelcher Gelbsperren oder Verletzungen nicht auflaufen.
Man darf davon ausgehen, dass eine solche Entwicklung der Dinge schnell wieder jenen Schleier der Verklärung über den Leistungsstand der deutschen Nationalmannschaft legen würde, der nach Amtsantritt des damaligen Christoph-Daum-Platzhalters Rudi Völler erstaunlich schnell zum Vorschein kam und erst von den Engländern so brutal zerrissen wurde. Kaum war das erste Länderspiel nach der EM gegen Spanien mit 4:1 gewonnen worden, hieß es sofort allenthalben: Rudi wird es richten. Spätestens, als der 1:0-Sieg in Wembley gegen England folgte, waren alle Vorsätze eines radikalen Umbruchs, wie ihn etwa Christoph Daum mit kompletter Neubesetzung des Trainerstabs im DFB geplant hatte, endgültig vergessen. Alter Trott mit neuer Lichtgestalt, hieß die Devise, nicht einmal die deutlichen Defizite bei den verlorenen Partien gegen Frankreich und Dänemark konnten die Rudi-Euphorie dämpfen, zumal Völler nicht nur gute Laune verbreitete, sondern auch Kompetenz zeigte, indem er neue Spieler und ein neues Spielsystem einführte. Im Glauben, den richtigen Mann gefunden zu haben, hielten viele die Inthronisation des Leverkusener Kokainexperten Daum plötzlich für unnötig, allen voran die Münchner Bayern, deren Manager Uli Hoeneß seine Daum-Demontage nie und nimmer gestartet hätte, wenn die ersten Matchs unter Völler verloren gegangen wären.
Selbst das Debakel gegen England ließ den freundlichen, sympathischen und besonnenen Rudi Völler mitsamt seinem vermeintlichen Taktikfuchs Michael Skibbe ziemlich unbeschadet zurück. Flächendeckend wird der Teamchef aufgefordert, entgegen seiner Ankündigung auch im Falle der verpassten WM im Amt zu bleiben, DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder umbalzt ihn bereits jetzt demonstrativ und hartnäckig in Sachen Vertragsverlängerung. Verständlich, dass der geplagte Funktionär ein solches Chaos wie nach dem EM-Aus im Vorjahr lieber nicht noch mal erleben möchte.
Der Rudi-Bonus gilt vorerst weiter, obwohl das taktisch desolate, kopflose und demoralisierte Team beim England-Match gezeigt hat, dass der Ad-hoc-Trainer möglicherweise gar nicht der richtige Mann ist. „Er ist einer wie ich“, lobte ihn Franz Beckenbauer und meinte damit nicht nur den Werdegang vom Starfußballer zum Teamchef ohne jede Trainerausbildung und -erfahrung, sondern auch den Status als Schoßkind des Glücks. Dabei weiß jeder Micky-Maus-Leser, dass es Gustav Gans nur einmal geben kann.
Viel schwerer wiegt, dass einer wie Beckenbauer mitnichten das ist, was die darbende deutsche Nationalmannschaft braucht. Die Binsenweisheit, dass große Spieler nicht automatisch große Trainer abgeben, hatte zunächst auch Beckenbauer erfahren müssen. Im Weltmeisterjahr 1990 hatte er dann aber ein Team, das zwar auch in der Qualifikation auf der Kippe stand, aber gut genug war, um jeden Gegner zu dominieren. Ein Fußball der Überlegenheit, welcher in Beckenbauer den optimalen Motivator und Moderator fand.
Diese Zeit ist lange vorbei, viele Mannschaften sind dem deutschen Team jetzt spielerisch und kämpferisch ebenbürtig oder überlegen. In einer solchen Situation ist Taktik essenziell, absoluter Kampfgeist unerlässlich. Beides lag gegen die Engländer im Argen. Der Versuch, diese mit Offensivfußball zu überrennen, obwohl ein Remis genügt hätte, war zwar hoch ehrenwert, aber töricht. Zudem warnte Völler zwar emsig vor den Briten, schaffte es aber offenbar nicht, bis zu den vor Selbstüberschätzung strotzenden Spielern durchzudringen. Klar scheint: Mit erfahrenen Charismatikern wie Ottmar Hitzfeld oder Christoph Daum auf der Trainerbank hätte es dieses 1:5 nicht gegeben.
Gerade Hitzfeld hat den veränderten Konstellationen in Europas Fußball längst Rechnung getragen. Mit Borussia Dortmund und Bayern München suchte er seit Jahren nicht mehr den offenen Schlagabtausch mit starken Gegnern, sondern befleißigte sich der Strategie des Underdogs: die Stärken des Gegners unterminieren, sein Spiel zerstören, Konter ausnutzen. Erst wenn die Demut im deutschen Fußball so weit fortgeschritten ist, dass die Nationalmannschaft auch solche Mittel nicht verachtet, ist die Lektion gelernt. Ob man dann noch zusehen möchte, ist allerdings eine andere Frage.
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