: „Tottä Uungläubigä!“
Auf der Kriegsbuchmesse entdeckt (1): Leo Tolstois neuer Klassiker „Krieg und Krieg“
Was bisher geschah: Auf einem Ball lernt der Kriegsminister Marschall Rudlow Scharpinjessew die burschikose Gräfin Pilatow kennen. Ein Skandal für die prüde Hauptstadt, denn man beobachtet das glückstolle Paar beim gemeinsamen Ausritt ohne Adjutanten! Rudlows alter Freund Marquis Josip Fischinskij, der erste Diplomat der Nation, leidet derweil an einer jäh zerbrochenen Liebe. Und beider Jugendkamerad, Kaiser Gerard Schroidjenskew, durchlebt alle Höhen und Tiefen der Ehe mit seiner Frau Dorisa Kopfskaja. Dass ihn die Baroness Angelique Beer-Zopfschlow heimlich liebt, weiß der Kaiser übrigens so wenig wie die verträumte Baroness, dass der hässliche, doch gutmütige Junker Frederick de Merss um sie schmachtet. Aber Freuden und Leiden der Herzen werden plötzlich klein, ja nichtig, als im fernen Westen, im Reich des gütigen Königs Georg II., der Usurpator Binaparte die Türme des Welttraditionszentrums zerschmettern lässt. Kriegsglocken läuten durchs Land. Und so kommt es zu einer gewaltigen Schlacht in den Bergen des südlichen Kaukasus . . .
26. Teil/Kapitel 116
Auf der Höhe von Haschmisch lag Baroness Angelique blutüberströmt an derselben Stelle, wo sie mit der Depesche des unveräußerlichen Grundrechts auf gezielte militärische Schläge in der Hand gefallen war, und stieß halb bewusstlos ein Stöhnen aus, das wie das Weinen eines kleinen Seehundes klang. Sie dachte daran, wie sie sich verkleidet hatte, um bei den Männern des Marschalls zu sein, wenn sie gegen das Hauptquartier des düsteren Schreckensfürsten vorrückten. Wie sie gehofft hatte, dass der Mann, den sie so verzweifelt liebte, ihre kühne Tat bemerken . . . und sie endlich auch lieben würde! Welch eine Narretei, dachte sie, merkwürdig kühl und leidenschaftslos. Dann versank die Baroness in einer schwarzen Ohnmacht.
Wo ist er, der Kaiser, mein liebster Gerard, den ich heute morgen im Kabinett noch so strahlend sah, ein Traum in seiner tadellosen Brionow-Uniform?, war ihr erster Gedanke, als sie ins Leben zurückkehrte. So übermenschlich groß erschien er mir nie zuvor, mein wunderbarer Kaiser . . . Und auch dieser Schmerz in meinem Kopf . . . So was habe ich nicht gekannt bis heute, dachte sie. Ja, nichts, nichts habe ich gekannt bis jetzt. Nur meine albernen Reden vor den albernen Freunden in den albernen Salons der albernen Hauptstadt. Aber wo bin ich?
Sie horchte auf und hörte das Gerassel von Panzerketten, das immer näher kam, und den Klang arabisch sprechender Stimmen. Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick war unsicher. Ein blauer Schimmer wie vom Uniformrock des Kaisers überstrahlte alles. Ist dies der Himmel?, überlegte die Baroness.
Die herangekommenen Marodeure waren Binaparte und zwei ihn begleitende Massenmörder. Der Weltfeind ritt das Schlachtfeld ab und erteilte die letzten Befehle zur Verstärkung der menschlichen Schutzschilde, welche sein Schreckensnest am Fuß des Qhartsch-Berges beschirmten. Vom Pferd herab besichtigte er die Verwundeten und Gefallenen, die den feigen Angriffen seiner Selbstmordpiloten und menschlichen Tretminen zum Opfer gefallen waren.
„Tottä Uungläubigä! Säarr gutt!“, keifte Binaparte und betrachtete einen zerschmetterten Pionier der kaiserlichen Armee, der, das Gesicht in die karge Erde gewühlt, mit grausam durchtrenntem Nacken auf dem Bauch lag, das letzte nicht abgetrennte Glied, den linken Arm, weit von sich gestreckt. Ein Bild des Marschalls Scharpinjessew lag in der Hand des treuen Soldaten.
„Die Hunde und Hündinnen vom Missionswerk sind wohl vertäut“, bellte in gutturalem Afghanisch ein bärtiger Terrorscherge. Er saß auf dem breiten Rücken eines entführten Diplomaten des Marquis Fischinskij. Der beklagenswerte Mann blutete aus vielen Wunden auf Rücken und Brust, doch kein Laut der Klage kam über seine Lippen. Die Baroness fühlte bitteren Hass in sich aufkeimen gegen diese Barbaren, diese Bestien. Schon wollte sie dem teuflischen Usurpator die Depesche ins verderbte Gesicht schleudern – aber da setzte er seinen Stiefel aus gegerbter Säuglingshaut auf ihren zarten Rücken. „Wälch ein angämessenär Tott für diesän jungän Schweinäfleischfrässär!“, schrie er mit einer Stimme, die auf die Baroness noch unangenehmer wirkte als der bäuerliche Akzent des hässlichen Junkers De Merss. Binaparte bohrte den Absatz tief in ihr zartes Fleisch. Baroness Angelique stöhnte schmerzlich.
Sogleich brüllten die ruchlosen Terroristen auf wie Hyänen.
Im nächsten Kapitel: Junker de Merss eilt aufs blutgetränkte Schlachtfeld, während die tapferen Truppen König Georgs II. die Brut Binapartes aus ihren Nestern treiben und Kaiserin Dorisa wärmende Fußkleider für die Mannen des Marschalls anfertigt.
AUFGESCHRIEBEN VON
LEW SOKOLOWITSCH TOITOI
Morgen: Maos „Völkerrede“
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