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: Neues, Altes, Mythisches: rund um den Buchmessenschwerpunkt Griechenland

Von wegen humanistische Bildung

Unsere Vorstellungen von Griechenland sind ebenso weit gespannt wie klischeebeladen. Sie reichen von der griechischen Antike als Kristallisationspunkt unserer Kultur über den Hollywood-Edelgriechen Zorbas bis zum Massentourismus und dem Fress-Griechen um die Ecke: von Sokrates und Sophokles bis Sirtaki und Souflaki. Der Buchmessenschwerpunkt dieses Jahres, an dem auch die Taschenbuchverlage nach Kräften mitverdienen wollen, mag dazu beitragen, das Land und seine Geschichte differenzierter in den Blick zu bekommen.

Wer nach Griechenland fährt, findet sich allerdings immer noch „Im Vaterland der Mythen“ wieder – so der Titel einer Sammlung aus Gedichten, Prosastücken, Dialogen und Essays von Zbigniew Herbert. Seine Texte bedienen keinen humanistischen Verklärungskitsch, sondern liefern überraschend aktuelle Zugänge zu Mythen, diesem „einfachen, zusammenfassenden Ausdruck der Wirklichkeit“.

Diese Definition des Mythos stammt von Nikos Kazantzakis, dem Autor des unverwüstlichen Romans „Alexis Sorbas“, der jetzt in einer überarbeiteten Übersetzung neu herausgekommen ist. Die Kultur des klassischen Griechenland erlebte 431 vor Christus mit der Uraufführung der „Medea“ des Euripides einen Höhepunkt. Das Stück bündelte nicht nur Themen, die den Zeitgenossen wichtig waren, nämlich die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das Zusammenleben mit Ausländern und Probleme des Asyls; vielmehr saß im Publikum das komplette Who’s who der griechischen Antike, von Perikles über Herodot bis Sokrates. Aus dieser Konstellation hat Hubert Ortkemper eine hoch spannende und aufschlussreiche Collage gefertigt, indem er seiner Neuübersetzung der „Medea“ ein Porträt-Panorama dieses Publikums einmontiert. Lebendiger und aktueller kann man so einen Stoff wohl kaum entstauben. Ein Buch wie dieses hätte ich mir auf dem Gymnasium gewünscht, als ich zwecks „humanistischer Bildung“ mit Altgriechisch traktiert wurde. Damit kann man heute in Griechenland etwa so viel anfangen wie hierzulande mit Mittelhochdeutsch. Wer Neugriechisch kann oder lernt, dürfte sich über das von Effrosini Kalkasina und Elisabeth Weiler edierte, zweisprachige Lesebuch „Woher kommt ihr?“ freuen.

Die Anthologie versammelt Texte griechischer Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen sowohl die antiken als auch die byzantinischen Wurzeln des heutigen Griechenland erkennbar werden – wie etwa in diesem Gedicht von Jannis Ritsos: „Unsere Häuser sind auf anderen gebaut, wohlgeformten, aus Marmor/jene wieder auf anderen. Ihr Fundament/gehalten auf Häuptern aufrechter Statuen, ohne Hände.“

Dreißig griechische Gegenwartsautoren versammelt die Anthologie „Die Erben des Odysseus“. Die Antike spielt hier kaum noch eine Rolle, und wer Sirtaki-Folklore sucht, ist ebenfalls im falschen Buch. Die Geschichten könnten zum größten Teil auch in anderen Teilen Europas spielen. Die Mythen und Klischees, die unser Griechenlandbild ausmachen, sind für zeitgenössische Griechen so relevant wie für uns die Ästhetik der Schnurkeramik. Bald wird es nicht einmal mehr Drachmen geben.

KLAUS MODICK

Hubert Ortkemper: „Medea in Athen“. insel tb. 342 S., 19,90 DMZbigniew Herbert: „Im Vaterland der Mythen“. insel tb. 238 S., 16,90 DMNikos Kazantzakis: „Alexis Sorbas“. Serie Piper. 351 Seiten, 18,90 DMEideneier/Georgallidis (Hg.): „Die Erben des Odysseus“. dtv. 264 Seiten, 19,50 DMKalkasina/Weiler (Hg.): „Woher kommt ihr?“ dtv. 192 S., 17,50 DM