: Ein Schmetterling im Niemandsland
■ Die Blumenthaler Pop- und Rap-Schwestern Derya und Sema Mutlu erhalten den Deutschen Fernsehpreis für Filmmusik
Zwei junge Menschen treffen sich auf einem HipHop-Konzert und verlieben sich ineinander. Soweit alles in Ordnung, soweit eine Geschichte, die ins deutsche Kino passt. Schluss mit lustig ist, wenn das Mädchen Krebs hat und der junge Mann über Selbstmord nachdenkt, wenn ein Gutteil des Films im Krankenhaus spielt und ausführlich von zerrütteten Familien erzählt. Da steigt das deutsche Kino aus, und zwar bereits im Vorfeld: „Der Schrei des Schmetterlings“ fand nach seiner Fertigstellung im Jahr 1999 keinen Kinoverleih, obwohl er fürs Kino produziert wurde. Die Produzenten mussten sich darauf beschränken, den Film lediglich im Fernsehen zu zeigen.
Auf Arte läuft er dort zwei Jahre später, im Frühjahr 2001. Im vergangenen August klingelte dann bei der Sängerin Sema Mutlu aus Bremen-Blumenthal das Telefon: Die Filmmusik zu „Der Schrei des Schmetterlings“ sei nominiert worden für den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Beste Musik, Mutlu werde mit ihrer Schwester Derya im Oktober bei der Preisverleihung in Köln erwartet. „Ich war total überrascht, hielt es für einen Scherz und ließ mir die Telefonnummer geben, um das Ganze per Rückruf zu überprüfen.“ Vergangenen Samstag waren Sema und Derya Mutlu bei der Galaveranstaltung auf SAT 1 zu sehen. Und wurden auf das Siegertreppchen geholt.
Am Montag sitzt die 32-jährige Sema Mutlu entspannt in einem Bremer Café und das Einzige, was sie ein bisschen nervös macht, ist das Foto, für das sie unvorbereitet und ohne ihre noch nicht zurückgekehrte Schwester posieren soll. Den Presse- und Promirummel des Wochenendes wertet sie nüchtern mit der Feststellung, dass leider keine Leute aus der Musikbranche da gewesen seien, denn zu denen hätte sie gerne Kontakte hergestellt. „Außerdem ist es schade, und zwar richtig schade, dass wir zwar einen Preis für unsere Musik bekommen haben, die Musik aber nicht verkaufen können: Die Produktion eines Soundtracks zu „Der Schrei des Schmetterlings“ wurde damals abgesagt, als klar war, dass der Film nur im Kino laufen würde.“
Unglück im Glück also, ein Zustand, der Sema Mutlu gut bekannt ist. Da war beispielsweise ihr erster Auftritt überhaupt, im Birdland in Hamburg. Die damals 24-jährige Studentin der Türkologie und der Isalmwissenschaften wurde von Hamburger Szenegrößen zum Jammen eingeladen und das begeisterte alle, außer ihren Mann: Mutlus Erfolg spitzte die schwelende Ehekrise so zu, dass kurz auf den Auftritt die Scheidung folgte. Daraufhin ging sie nach Bremen zurück, um mit ihrer sieben Jahre jüngeren Schwester Derya Musik machen, ein Duo, das unter dem Etikett „HipHop deutsch-türkischer Frauen“ operierte. Das Medieninteresse dafür war enorm, es folgten – neben der Filmmusik – eine Tour mit Udo Lindenberg und 1997 ein Plattenvertrag. Vater und Mutter in Blumenthal waren stolz, obwohl sie abgesehen von Boney M.-Platten keinen Zugang hatten zu Pop-Musik und sie sich ihre Tochter lieber als Universitäts-Dozentin vorstellten als als Musikerin. Kurz nach Veröffentlichung des Debutalbums ging die Plattenfirma Pleite und übertrug die Rechte an der Mutlu-Musik auf eine Privatperson, so dass Sema und Derya bis März 2000 nichts veröffentlichen konnten. „Wir standen völlig im Niemandsland. Als die Filmproduzenten dann noch den Soundtrack absagten dachte ich: Tolle Sache, kommt ja mal wieder alles zusammen.“
Während der zwangsweisenVeröffentlichungspause traten die Mutlu-Schwestern bei Nebenprojekten auf, eine Soul-Coverband etwa oder Gastauftritte bei Theaterproduktionen. Vor allem aber nutzen sie die Zeit, um das eigene, nach wie vor wichtigste Projekt weiterzuentwickeln: Mutlu kündigt neue Songs an, die „mit HipHop nicht mehr viel zu tun haben“. Statt Rap gebe es zweistimmigen Gesang in balladesken, melancholischen Songs der Kategorie „ganz grob: Pop“. Eine zentrale Rolle soll dabei ihr türkischer Background spielen, allerdings nicht mehr als Marketingstrategie, sondern als Teil des ästhetischen Konzepts: „Die Melodien sind leicht orientalisch“, die Texte seien inspiriert von der „blumigen Art“ der Türken sich auszudrücken: „Ich schreibe Deutsch mit einem türkischem Denken und mit türkischem Gefühl.“
Ob der Deutsche Fernsehpreis der Türöffner ist für einen neuen Plattenvertrag, das werden die Mutlu-Schwestern demnächst herausfinden. Von ihrer Seite her scheint alles geklärt: „Ich habe das Gefühl, wir haben jetzt endlich unsere eigene Sprache gefunden. Und unser Ziel ist, wir selbst zu sein.“ Für das Happy-End ist jetzt die Kulturindustrie verantwortlich. Wie im Film. Klaus Irler
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