: Hallo draußen
■ Pop-Literat Christian Kracht las aus seinem neuen Roman „1979“ im Lagerhaus
Damals, als Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre noch mehr miteinander zu tun hatten, da haben sie das aggressive mediale Selbstmarketing für Schriftsteller erfunden. Lesung und Unterhaltung waren bei ihnen keine Gegensätze mehr, im Gegenteil: Stuckrad-Barre ist so in der Rolle des Performers aufgegangen, dass man ihm kürzlich eine eigene Show auf MTV gab. Christian Kracht hingegen gab nur ab und zu ein schlecht gelauntes Interview. Und schrieb an seinem zweiten Roman nach seinem gefeierten Erstling „Faserland“ (1995).
Krachts Zweiter heißt „1979“, und zur Veröffentlichung gibt's erstmal eine bundesweite Lesereise. Die führte Kracht Dienstagabend ins ausverkaufte Lagerhaus. Pünktlich um 21 Uhr huscht Kracht hinter dem Vorhang hervor auf die Bühne, ein scheuer Blick ins Publikum, keine Begrüßung, als ob er dafür zu schüchtern wäre.
Er fängt sofort an zu lesen, und zwar von vorne: „Auf dem Weg nach Teheran sah ich aus dem Autofenster, mir wurde etwas übel, und ich hielt mich an Christopers Knie fest.“ Wie bei „Faserland“ sind Krachts Helden auf Reisen und machen sich Gedanken über Popmusik, Markenklamotten und Styling. Aber statt durch den deutschen Alltag nach der Wiedervereinigung bewegen sie sich durch einen feindseligen Iran im Revolutionsjahr 1979. Und sind von Anfang an krank, seelisch wie körperlich.
Kracht legt bei der Präsentation seines Erlebnisberichts dezidiert keinen Wert auf Performance, er verkörpert ganz das Schriftstellerklischee, gegen das er vor kurzem noch so gerne aninszeniert hat: Kracht ist in sich gekehrt, scheu, sensibel, die Stimme kippelt ihm öfter, ganz der Künstler, der sich nur in seiner Welt wohlfühlt und sich mit dem Kontakt nach draußen schwer tut. Alles, was er aus seiner Umgebung aufnimmt, ist der Rauch seiner Zigaretten. Und das sagt auch nur: Ich bin nervös. Und irgendwie ergriffen.
Diese Ergriffenheit wird nach der Pause zur Betroffenheit: Kracht liest nun das Ende seines Textes, eine eindringliche Schilderung des Lebens in einem chinesischen Arbeitslager. Darin darbt sein Held mit einer eigenartigen Lust an der Entbehrung, die ihm Mittel zur seelischen Reinigung ist. Die Grausamkeiten, die er dabei erleidet, breitet Kracht ähnlich detailliert aus wie Brett Easton Ellis die Morde in „American Psycho“.
Letztlich wirkt Krachts Arbeitslager-Betroffenheit genauso herbeizitiert und geliehen wie die Identitäten seiner Markenartikel-Helden. Mit Popliteratur hat Krachts „1979“ aber trotzdem nichts mehr zu tun, denn Pop darf zwar viel, aber er darf eines nicht: schaal schmecken.
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