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Die Welt als Wunsch

Der Körper wird zum Interface, und selbst das Bier sucht im Fluss der Worte nach seiner Referenz: Albert Ostermaiers Stück „Es ist Zeit. Abriss“ wurde am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt

Die Bühne ist eine Plattform, auf der sich der Text ausbreiten kann

von MORTEN KANSTEINER

Von ein paar Flaschen Pils kann einem schnell mal authentisch werden. Zumindest im Theater. Man kann beinahe schon den Wunsch nach dem Wahren riechen, wenn auf der Bühne jemand fragt: „Hast du noch ein Bier?“ Albert Ostermaier passt auf, dass es so weit nicht kommt. Er lässt das Bier in seinem neuen Stück in Strömen fließen. Aber verdünnt. Den Platzhalter des Alltags lässt er in seiner eigenen Textwelt aufgehen. Die Frage nach dem Bier reiht sich ein in eine lyrische Rede über Stimmen, Schatten, den Wind, der sich eine „handvoll asche nimmt und / die gesichter der wolken / beschmiert die weiterziehn / blauerem himmel zu hast du / noch ein bier . . .“

So strömt der Text, in dem monologischen Fluss, der sich durch viele Texte Albert Ostermaiers zieht. Für einige jüngere Stücke, für „The Making Of. B.-Movie“ und „Death Valley Junction“, hat er diesen Stil gezügelt und Dialoge geschrieben. Aber „Es ist Zeit. Abriss“, am Freitag im Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt, entfernt sich wieder von Theaterkonventionen. Das Stück bietet dieselbe rasch dahingleitende Oberfläche wie „Autokino“, Ostermaiers neuer Gedichtband. Im Fluss der Worte lassen sich durchaus konkrete Sätze unterscheiden. Aber sie herauszufischen, verlangt Aufmerksamkeit. Sie schlagen Haken von Vers zu Vers und verwischen ihre Satzzeichen. Wenn hier die Frage nach einem Bier vorbeitreibt, ist sie vom wahren Leben schon weit entfernt. Der Text hat sie tief in die Kunst gespült.

Deswegen bleiben die Bierflaschen auf der Bochumer Bühne verschlossen. Niemand soll sich an Authentizität berauschen. Nein, Matthias Hartmann, der Hausherr, der in diesem Fall eine sehr entschiedene Position zum Text einnimmt, inszeniert Ebenen der Künstlichkeit. Die Bühne von Volker Hintermeier bietet keinen konkreten Ort, sondern zunächst einmal eine Plattform, auf der sich der Text ausbreiten kann. Da stehen vier Stühle, vier Pulte davor. Hier nehmen Jürgen Rohe, Lena Schwarz, Maik Solbach und Ernst Stötzner Platz, um sich die Monologe von Castou, Dor, Lux und Dufin anzueignen. Einige Augenblicke murmeln, lesen sie durcheinander, bis sich eine Stimme löst, eine Figur vortritt. Jede darf von den Ereignissen sprechen, die ihr im Kopf herumgehen. Es sind dieselben, in allen vier Fällen, aber doch vier verschiedene Versionen.

So viel ist sicher: Der Streuner Castou spricht in einem Park Lux und Dor an, ein leicht verkrachtes Paar. Er folgt Dor, als sie allein in ein Parkhaus geht. Dort trifft er später auf einen rätselhaften Bauarbeiter, der selbst in der Nacht noch in der Unterwelt wühlt. Und dem begegnet auch Lux. Aber ist dieser Bauarbeiter und Bierlieferant mit Dufin identisch? Hat Castou das Mädchen vom Parkdeck gestoßen und ihren Freund erstochen? Man kann sich nicht darauf verlassen. So etwas wie Referenzrealität gibt es nicht. Jede Figur erzeugt ihre eigene Welt.

Wenn Castou von Dor zu erzählen beginnt, bildet sie sich auf der semitransparenten Wand ab, die zwei Etagen hoch die Bühne von rechts nach links durchtrennt. Erst erscheint das Mädchen als Silhouette, dann als formatfüllende Projektion. Die Wand fungiert als Monitor mentaler Bilder. Und als Interface: Wenn etwa Dor das Wort ergreift, macht das projizierte Gesicht ihres Freundes mehrfach Anstalten, ihr zu antworten. Sie holt sogar eine Wimper von seiner Wange, die auf Mannshöhe vergrößert ist. Trotzdem, obwohl er zum Greifen nahe ist, bleibt er unerreichbar. Dor kommt nur an das Videobild heran, jedoch nicht an den Körper, der hier abgefilmt wird. Zwischen Lena Schwarz und Maik Solbach, der fern in der Tiefe der Bühne in eine Kamera agiert, erhebt sich die Wand, durchscheinend, aber doch fest. Kein Weg führt in eine Welt, die für beide die wahre wäre.

So bleiben die Figuren allein, kleben am Schaufenster ihrer eigenen Vorstellungen. Nur einer hat sich losgerissen. Dufin hat es drangegeben, sich Bilder zum Nachlaufen zu erfinden: „ich / habe mir abgewöhnt zu / warten auf einen Anruf / einen Zug ein Lachen auf / einem verweinten Gesicht“. Wenn Ernst Stötzner spricht, bleibt die Mattscheibe leer; nicht einmal der Spot mag ihm folgen, wenn er seinen Stuhl verlässt. Dufin braucht die Show nicht. Stötzners sanft knarzende Stimme füllt das Halbdunkel ganz gut allein. Wenn er spöttisch eine Machogeste andeutet, wischt er damit das ganze geschäftige Armeschwingen des Lux von Maik Solbach weg. Dufin hat Ruhe. Aber das heißt auch: Er ist am Ende. „Endlich“ ist sein einziges Wort, als Castou ihm irgendwann eine Flasche auf dem Schädel zerschlägt.

Wer auf nichts mehr wartet, muss gehen. Die überlebensgroßen Wunsch- und Weltbilder mögen anstrengend sein, aber sie liefern einen Vorwand, etwas länger zu bleiben. Man sollte sie nicht leichtfertig ausschalten wollen. Aber – da lässt die Inszenierung keinen Zweifel – eben auch nicht mit dem Wahren verwechseln.

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