„Ich will keine Realität“

Sehr schnell. Unerträglich schnell. Vielleicht zu schnell. Baz Luhrmanns Film „Moulin Rouge“ ist ein Melo-Musical über die Blumenkinder der Jahrhundertwende. Der Regisseur im Gespräch über Kulturkämpfe, Geschmack, Kitsch und den neuen Bond

Interview KATJA NICODEMUS

taz: Baz Luhrmann, zurzeit reden alle inflationär vom Kampf der Kulturen. Sie hingegen verbinden in Filmen wie „Romeo + Julia“ und „Moulin Rouge“ Kulturen und Kulturepochen zu völlig neuen Hybridformen.

Baz Luhrmann: Die These vom clash of civilizations ist absoluter Schwachsinn, eine furchtbare Vereinfachung. Sehen Sie sich die Menschheit mit ihrer etwa 5.000 Jahre aufgezeichneter Geschichte an. Da gibt es bestimmte Muster, die immer wieder verwendet werden, nicht weil man sie immer wieder erfindet, sondern weil Menschen sich so verhalten. Ein Beispiel: Es gibt das westliche Imperium, das die Welt kulturell beherrscht, und einen religiösen Führer, der mit seinen Anhängern behauptet, diese Kultur verkörpere das Schlechte. Sie töten ihn, er wird zum Märtyrer – und wir haben das Gefühl, dass sich etwas Ähnliches schon einmal zwischen den Römern und Jesus Christus abgespielt hat. Solche Muster interessieren mich, auch in meiner Arbeit. Deshalb finde ich die Leute, die von einem Kampf der Kulturen sprechen, genauso primitiv wie die, die versuchen, hohe Kunst und Trash gegeneinander auszuspielen bzw. versuchen andere Hierarchisierungen zu installieren. Shakespeare war seinerzeit Popkultur und wurde zur hohen Kunst, das Gleiche geschah mit Oper. Geschichte und Kulturgeschichte werden bestimmt durch universale Muster und Mythen, die sich durch Zeiten, Räume, Geografien und Zivilisationen fortsetzen. Wer das Gegenteil behauptet, hat Unrecht.

In Ihrer Arbeit brechen Sie mit Vorliebe europäische Geschichten und Mythen an anderen Formen. „Moulin Rouge“ hat eine ausufernde Bollywood-Tendenz und Ihre Operninszenierung von Brittens „Sommernachtstraum“ haben Sie mit Hindi-Techno durchsetzt.

Letztlich gehen alle unsere Mythen auf die griechische Kultur zurück. Sobald man sich diese Mythen aber genauer anschaut, sind die Analogien mit der indischen und asiatischen Kultur unübersehbar. In der Tat ist „Der Sommernachtstraum“ nicht allzu weit von der indischen Mythologie entfernt. Davon abgesehen: Wir Australier wachsen mit einer Mischung aus Old Europe und amerikanischem Pop auf. Wir können Witze über die Fernsehserie The Brady Bunch machen und uns mit euch über Toulouse-Lautrec unterhalten. Es gibt nur sehr wenige Amerikaner, die den Namen Toulouse-Lautrec schon mal gehört haben, und kaum einen Europäer, der Marcia Brady kennt. Nicht dass ich mich hier als australischer Multikulti-Weltbürger aufspielen will, aber unsere geografische Lage bedingt schon eine gewisse Offenheit gegenüber verschiedenen Kulturkreisen.

Robert Wise, der Regisseur der „West Side Story“, hat „Moulin Rouge“ die Wiedergeburt des Musicals genannt. Woher stammt Ihre Affinität zu diesem Genre?

Ich bin Musical-Fan, seit ich denken kann. In Australien bin ich am Ende der Welt aufgewachsen. Mein Vater hatte dort eine Tankstelle, und es gab ein kleines Kino, in dem ich meine ersten Filme sah: Musicals. Alle hatten zu Hause einen Fernseher, und dort liefen ständig: Musicals. Ich liebe dieses Kino, und es hat zurzeit eine wirkliche Chance, sich wieder als filmische Form zu etablieren. Etwas vereinfacht gesagt, bestand die Filmsprache des Mainstream in letzter Zeit etwas zu sehr daraus, Gebäude in die Luft zu sprengen und Menschen niederzumähen. In unserer ganzen bourgeoisen Übersättigung und Beschränkung auf den physischen Effekt musste im Kino unglaublich viel auf uns einstürmen, damit wir das Gefühl hatten, überhaupt etwas zu erleben. Das ist nun endgültig vorbei. Ich sage nicht, dass Musicals wieder zum bestimmenden Genre werden, aber diese Form wird wieder in Mode kommen.

In „Moulin Rouge“ spielen die Schauspieler an einem vorher aufgenommenen Soundtrack entlang. Das wirkt manchmal ein wenig steif.

Im klassischen Musical gab es immer ein vollständiges Playback. Da war für die Schauspieler überhaupt keine Variation möglich. In der Oper kann ein Sänger zur Steigerung des dramatischen Effekts seinen eigenen Rhythmus vorlegen. Der Dirigent hält das Orchester dann in der Spur. Ewan McGregor und Kidman singen alle Szenen selbst, manche sogar live auf dem Set. In diesem Fall haben wir die Musik nachträglich mit einem Orchester und einem Dirigenten eingespielt, der für den Abgleich sorgte. Aber das war die Ausnahme, ansonsten gab es jede Menge traditionelles Playback. Sagen wir es so: Ich habe versucht, es innerhalb der von mir geliebten Künstlichkeit so wenig steif wie möglich aussehen zu lassen.

Seit „Romeo + Julia“ wird Ihr Kino gerne mit MTV verglichen. Gerade am Anfang von „Moulin Rouge“ überschlägt sich der Schnitt geradezu . . . 

Metaphorisch gesagt: Der Wecker klingelt ununterbrochen während der ersten zwanzig Minuten. Ich wollte geradezu obsessiv diese merkwürdige Form von Hypnose vermeiden. Diesen langsamen Rhythmus, der suggeriert, dass man sich in irgendeiner Form von Wirklichkeit befindet. Man sollte sich wie in einem Footballmatch fühlen, das von MTV zu Clips verarbeitet wird. Der Anfang ist sehr schnell. Unerträglich schnell. Vielleicht zu schnell. Aber dann findet das „Musical“ doch zu einer eher klassischen filmischen Form.

Apropos Klassizität: Irgendwann gibt es die Dialogzeile: „Genug mit Dogma“. Dabei haben Sie mit Lars von Trier zumindest die Vorliebe für Melodramen gemein.

Diese Zeile war nicht als Kritik gemeint. Lars und ich verfolgen unsere Arbeit sogar wechselseitig seit den ganz frühen Anfängen. Und wir werfen tatsächlich beide den Blick auf das Melodram, wenn auch aus völlig verschiedenen Perspektiven. Ich bin hier (zeigt nach unten) und er ist ungefähr da (zeigt nach oben). Ich habe mit dem Filmemachen angefangen, indem ich naturalistische Straßenszenen mit einer 16-mm-Kamera aufnahm, kleine Dokudramen eben. Dann habe ich mich in eine eher barocke Richtung entwickelt. Er hingegen hat sehr barock angefangen und nach und nach allen Ballast abgeworfen. Wir beide lieben Tragikomödien, wir beide zitieren gerne Musik, wir beide sind besessen von Tod und Opfer und wir beide arbeiten in unseren eigenen Firmen innerhalb von streng abgeschirmten Produktions-Biotopen.

Mit Ihrer eigenen Entwicklung hin zum Barocken ging auch eine gewisse Hinwendung zum Jugendkult einher, die es beispielsweise in Ihrem Debüt „Strictly Ballroom“ so noch nicht gab.

In all meinen Filmen geht es um Liebe. In „Strictly Ballroom“ musste sie sich gegen die Unterdrückung durch die ältere Generation durchsetzen. „Romeo + Julia“ ist die Liebe in ihrer Champagner-Variante, die in Konflikt mit der Gesellschaft gerät. In „Moulin Rouge“ geht es um den Orpheus-Mythos, um den Übergang einer jugendlich-idealistischen Liebe in eine Erwachsenenerfahrung. Es geht um den Moment, in dem man feststellt, dass es Dinge gibt, die größer sind als man selbst. Im Grunde geht es immer um jugendliche Parameter, die sich mit dem Erwachsensein abgleichen müssen. Um also auf Ihre Kritik zurückzukommen. Ich denke, dass der Jugendkult in meinen Filmen früher oder später immer eine Brechung erfährt.

Sie bezeichnen die Ästhetik Ihrer Filme augenzwinkernd als „Vorhang auf“-Schema. Typisch dafür ist ein artifiziell vermittelter Kommunikationsbegriff. Die Figuren brauchen immer ein weiteres Medium, um sich zu verständigen: Tanz, Musik, Shakespeares Verse.

Ich will keine Realität. Deshalb zeige ich in „Moulin Rouge“ auch kein einziges Bild von Toulouse-Lautrec. Wenn Nicole Kidman weint und sich dabei ihr Make-up auflöst, müssen wir die Szene noch mal drehen. Nichts darf auch nur im Entferntesten real wirken, weil sonst der Vertrag mit der künstlichen Welt gebrochen wird, die ich benutze, um Gefühle zu erzeugen.

Haben Sie sich schon mal vorgestellt, einen Film über ein Paar zu drehen, das zu Hause auf dem Sofa hängt und sich über Beziehungsprobleme unterhält?

Durchaus. Auf dem Theater habe ich genau solche Dinge gemacht. Die „Vorhang auf“-Ästhetik ist etwas, was ich seit nunmehr zehn Jahren in drei Filmen weiterentwickelt habe. Diese barocken Filme entsprechen meinem gegenwärtigen Geisteszustand. Meine Frau und ich leben zum Beispiel in einem völlig weißen Apartment, weil wir bei der Arbeit schon von so viel Theatralik umgeben sind. Und es ist manchmal nicht so einfach, diese Ästhetik gegen Menschen verteidigen zu müssen, die einem suggerieren, sie sei geschmacklos. Geschmack ist der Tod der Kunst. Was ist Kitsch und was nicht? Heute bewundert man die milchweißen klassischen griechischen Statuen und früher trugen sie blaues Augen-Make-up. War das Kitsch?

Sie haben einen Lebenstraum, der perfekt zu Ihrer Vorliebe fürs Barocke passt: einmal einen James Bond drehen.

Es wäre ein James Bond mit einer völlig anderen Filmsprache. Nur brauche ich leider für jeden Film vier Jahre, und das würde mir bei einer Bond-Produktion wohl keiner gestatten. Pierce Brosnan wäre ganz okay, aber ich glaube, Ewan McGregor wäre ein Killer-James-Bond. Das wäre dann eher die Sean-Connery-Linie. Das Problem ist nur, dass in unserer veränderten Welt nur noch sehr schwer ein Bond-Movie zu machen ist. Wogegen soll der Geheimdienst arbeiten? In welchem Kontext soll die Handlung angesiedelt sein? Man braucht einfach einen überzeugenden Bösen. Und das Bösen-Business wird im Moment von einer ganz bestimmten Person besetzt. Eine Camp-Version mit Bond, der gegen islamische Terroristen kämpft, ist im Moment, glaube ich, nicht drin.