Das Universum dreht sich

Studieren in Deutschland, das war lange Zeit ein Leben im Jammertal. Inzwischen aber gelten Reformen nicht mehr als undurchführbar. Sie werden längst durchgeführt. Ein Bericht über die Grammatik des Neuen

von CHRISTIAN FÜLLER

Wer hätte das noch vor kurzem für möglich gehalten? Dass kein Geringerer als Sir Peter Ustinov an der Freien Universität Berlin mit launigen Bemerkungen den Vorlesungsbetrieb des neuen Semesters eröffnet? Ustinov an der Uni, das spricht nicht nur für die Umtriebigkeit der universitären Öffentlichkeitsarbeiter. Es ist auch ein kleines Symbol für den Wiedereinzug der Weltläufigkeit in deutschen Universitäten. Oder sollte es zumindest werden. Denn Ustinov erkrankte, statt seiner eröffnete Klaus Wowereit am Mittwoch den Vorlesungsbetrieb an der FU.

Schon seit Anfang der Neunzigerjahre durchläuft die Freie Universität (FU) eine – oft schmerzhafte – Metamorphose. Die einstmals größte deutsche Hochschule, die als Paradebeispiel für die blockierte Massenuniversität galt, macht eine rabiate Schrumpfungskur um rund ein Drittel ihrer Professoren und Studenten durch. Sie hat – in einem vom angesehenen Gütersloher Centrum für Hochschulentwicklung begleiteten Modellversuch – einen mächtigeren Präsidenten bekommen, der sich durch hochschulexternen Sachverstand beraten lässt. Seit längerem schon wird mit einer interdisziplinären und flotteren Art des Promovierens in Graduiertenkollegs experimentiert. Nun sollen neue Bachelorabschlüsse einen schnelleren ersten Studienabschluss nach drei Jahren ermöglichen.

Mit Immatrikulationsfeiern und Graduierungszeremonien versucht die FU inzwischen, eine eigene Corporate Identity herzustellen. Und seit ihrem fünfzigjährigen Jubiläum 1998 lädt die Berliner Uni bekannte Redner zu feierlichen Semestereröffnungen ein: Robert Gernhardt, Loriot, Hans-Olaf Henkel – und nun Sir Ustinov.

Die Hochschulen beginnen, aus der Defensive, in der sie in den vergangenen Jahrzehnten verharrt hatten, herauszukommen und das Büßergewand abzulegen. Statt unaufhörlich Überlast und Überforderung zu beklagen, findet sich wieder so etwas wie Zuversicht unter Professoren und Studenten. Es mehren sich die Zeichen, dass Studieren in Deutschland allmählich wieder Spaß machen könnte. Im ganzen Land, auf allen akademischen Ebenen.

Reformen gelten nicht mehr als undurchführbar – sie werden durchgeführt, nicht nur an der Freien Universität. Das manchmal etwas unübersichtliche Treiben kann man auf folgende Kurzformel bringen: Die Hochschulen werden kundenfreundlicher für ihre Studenten – ohne ihre aufklärerische und kritische Potenz aufzugeben.

Die deutschen Hochschulen litten lange gewissermaßen an einer allgemeinen Verstopfung. Niemand wusste so ganz genau, wer als Studienbewerber in die akademischen Black Boxes eintrat. Und wann die Absolventen dann, mehr oder weniger deprimiert, wieder aus ihnen herausfanden. Keiner konnte auch präzise sagen, wo das viele Geld in den Uni-Apparaten versickerte und wer darin wirklich die Macht ausübte. Der ganze Laden gebärdete sich ziemlich undurchsichtig – für die Bürger sowieso, leider auch für Wissenschaftsminister und Studienanfänger.

Die Methoden, das Knäuel zu entwirren, ähneln sich überall im Lande. Die Hochschule wird unabhängiger, man lässt sie von der kurzen Leine der Kultusbürokratie. Und als Organisation differenziert sie sich nach allen Regeln der Kunst aus: Das Studium gliedert sich von einem mehr oder weniger zähen Brei in eine Abfolge von Bachelor-, Master- und Promotionsstudiengängen; die ständisch-kameralistische Machtballung wird in kostenbewusste Steuereinheiten fürs grundsätzliche und operative Geschäft zerlegt; die mit Altersweisheit geschlagene, auf mäßigen, aber stetigen Gehaltszuwachs wartende Professorenschaft wird zu Gunsten eines jungen Wissenschaftlernachwuchses umgestaltet, der nach Leistung bezahlt wird; der planwirtschaftliche Zugang zum Studium weicht allmählich einer an den Interessen und Talenten orientierten Auswahl der Bewerber.

Inzwischen werden die ersten Beispiele positiver Veränderung an den 325 staatlichen Hochschulen auch von außen wahrgenommen. In einer Umfrage der Wirtschaftswoche gaben kürzlich Manager zu Protokoll, dass die bislang so bejubelten Privathochschulen ihrer Einschätzung nach stagnieren – während die staatlichen Einrichtungen mächtig in Schwung kommen. Der Aufbruch an den Hochschulen ist augenscheinlich konkreter und wirksamer gewesen, als es das jahrelange Gezanke um Studiengebühren oder schnelle Bachelorstudiengänge ahnen ließ. Die Möglichkeit der Selbstauswahl der Studenten durch die Fachbereiche zum Beispiel war heiß umstritten. Wie sinnvoll diese neue Freiheit ist, kann man besonders gut an einer kleinen Fachhochschule begutachten, der FH im schwäbischen Reutlingen, dem „Harvard im Ländle“.

Vor den meisten deutschen Hochschulen nutzt die dortige European School of Business (ESB) bereits das Recht, aus Abiturienten Eleven zu machen. Der Reutlinger Wirtschaftsfachbereich kann sich seine Studenten selbst aussuchen – und zwar alle. Eine Sondergenehmigung des baden-württembergischen Wissenschaftsministers macht es möglich. Studienbewerber aus ganz Deutschland nahmen im Juli wieder an den Auswahlgesprächen teil, und das hatte so gar nichts von dem einschläfernden Odem, den Einführungsvorlesungen und wissenschaftliche Propädeutika üblicherweise an Erstsemestler aussenden. Die Bewerber sind motiviert, und sie wollen dazugehören.

An der ESB zeigt sich nicht nur, welches Engagement bei Studenten und Professoren die Auswahlgespräche freisetzen. Das Studium und die Atmosphäre dort sind anders. Die durchschnittliche Studiendauer in Deutschland beträgt an den Universitäten 6,7 und an den Fachhochschulen 5,2 Jahre. In Reutlingen sind es vier. Das Studium an der ESB ist schnell, international, und es führt über Praktika direkt in die Managementpraxis. Die Absolventen sind gefragt bei Consultingfirmen und den Investmentabteilungen großer Banken. Achtzig Prozent der Reutlinger Wirtschaftsstudenten haben ihren Arbeitsvertrag schon vor Studienabschluss in der Tasche. Entsprechend selbstbewusst treten sie auf.

Seit vorigem Jahr können alle Hochschulen zwanzig Prozent ihrer Studienanfänger selbst aussuchen. Schon wird die Forderung erhoben, die Hälfte der Studienbewerber auswählen zu dürfen. Die Fachbereiche nämlich, die die neue Chance bereits nutzen, machen dieselben positiven Erfahrungen wie die ESB. Anders als befürchtet, muss die Auswahl ja nicht zwingend zur Formung einer rein kognitiven Elite führen.

In Reutlingen etwa wird nicht allein nach Abiturnoten ausgesiebt. Schon in der Vorauswahl wird ein Teil der Studierenden über die Wertung des Lebenslaufs zum Bewerberinterview zugelassen – wobei soziales und gesellschaftliches Engagement ausdrücklich erwünscht sind. Ein Drittel der Studenten wird dann bei der Endausscheidung allein nach dem Eindruck beim Interview und einer schriftlichen Testnote ausgewählt. „Unser Ziel ist es, soziale Manager auszubilden“, sagt Dekan Hans-Werner Stahl. Und sein Kollege Ditmar Hilpert ist stolz darauf, gerade Querköpfe und Querdenker unter den Bewerbern herauszupicken.

Auch anderswo hat sich eine Menge getan. Bund und Länder haben mit der Ausweitung des Bafög und der Dienstrechtsreform für Professoren wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Und die Hochschulen selbst gewinnen deutlich an Selbstbewusstsein, die Larmoyanz weicht der Lockerheit. Hoppla, wir werden wieder wer, heißt die Devise. Die ganze akademische Szene erlebt eine kleine Auferstehung und beginnt ihren Auszug aus dem Jammertal der Neunzigerjahre. Sogar beim Erschließen neuer Geldquellen.

Die Berliner Fachhochschule für Wirtschaft zum Beispiel immatrikulierte gerade neue Studierende, genauer: Berufstätige. Die 25 Teilzeitstudenten, meist Mediziner, werden zu Gesundheitsmanagern fortgebildet. Sie müssen dafür zehntausend Euro an die kleine Fachhochschule (3.400 Studenten) überweisen – was sie nach eigener Aussage gerne tun. Denn für die Ärzte, Gesundheitstechniker und Pharmaexperten kommt es nicht darauf an, umsonst zu studieren. Sie wollen ein Aufbaustudium absolvieren, das sich mit ihrer Berufstätigkeit kombinieren lässt, und genau das bietet die FHW an, indem sie das zweijährige Pensum in elf einwöchige Seminarblöcke zusammenzieht. Beide Seiten empfinden diese Art des Studierens als Vorteil. Die im Job stehenden, achtundzwanzig bis fünfzig Jahre alten Studenten können nach zwei Jahren einen Master of Business Administration vorweisen, der in angelsächsischen Ländern ein Markenzeichen ist. Und auch die FHW ist zufrieden. Sie tummelt sich in einem Feld, das manche Hochschule noch vernachlässigt, der beruflichen Weiterbildung. Mit dem Gesundheitsmanagement hat die FHW erstmalig auch Kontakte zur Wirtschaft geknüpft. Inzwischen bietet sie fünf gebührenpflichtige Weiterbildungsstudiengänge an – und hat damit Anschluss an einen enormen Markt von rund achtzig Milliarden Mark, die jährlich in der Weiterbildung in Deutschland umgesetzt werden.

Wendigkeit und Unternehmungslust zeichnet viele Fachhochschulen aus. Überall in Deutschland reizen die kleinen Tiger des Hochschulsystems die großen Universitäten. Jahrelang reagierten die auf die FH-Konkurrenz mit einer Mischung aus Verachtung und Furcht. Auch das scheint sich geändert zu haben. Angespornt durch die Fachhochschulen mit ihren scharf geschnittenen, meist ökonomischen oder technischen Profilen, besinnen sich die Königstiger unter den Hochschulen wieder auf ihre Stärken. Derzeit wird nach Informationen der taz an den zwanzig größten deutschen Universitäten, von München bis Hamburg, von Aachen bis Dresden, an einer Imagekampagne gefeilt. Die lange als Symbole des anonymen Massenstudiums verhöhnten Hochschulen jenseits der Zahl von zwanzigtausend Studenten wollen noch in diesem Herbst Öffentlichkeit und Politik zeigen, wie toll sie wirklich sind. Die unbeweglichen Tanker gut – wie das?

In der Tat leisten die akademischen Giganten mehr, als man ihnen vor lauter zur Schau getragenen Selbstzweifeln zugetraut hätte. Sie werben mit Abstand die meisten Drittelmittel aus der Industrie ein und sie graduieren das Gros der Akademiker. Vor allem aber können sie etwas, was die kleinen Fachhochschulen nicht schaffen – sie machen ungewöhnliche Fächerkombinationen möglich. An der FH Schweinfurt oder der Hochschule Vechta kann man eben nicht Islamwissenschaften mit einem Politikstudium kombinieren oder Kunstgeschichte und Sinologie studieren. Da muss man schon nach Münster (42.000 Studenten) oder Hamburg (39.300 Studenten) gehen.

Man darf gespannt sein, was die zwanzig großen Hochschulen noch alles vorbringen werden, um sich als die Ivy League der Kolosse dazustellen. Eines ist jetzt schon sicher. Die Kampagne ist Ausdruck des allgemein gestiegenen Bewusstseins an den Hochschulen, wie wichtig Pragmatismus, Professionalität und modernes Marketing sind. Seit einiger Zeit präsentieren sich die Hochschulen schon in eleganten Uni-Zeitschriften. Es macht auch wieder Spaß, die Vorlesungsverzeichnisse zwischen Kiel und Konstanz zu lesen. Und überall werden die Internetauftritte der Unis auf Vordermann gebracht. Das überall keimende Selbstbewusstsein, die vielen Initiativen aus den Hochschulen heraus sind aber nur ein Vorgeschmack auf ein Jahrzehnt des akademischen Aufschwungs, das Deutschland bevorsteht.

Die gerade in den parlamentarischen Beratungen steckende Dienstrechtsreform wird das Bild der Hochschulen in den kommenden Jahren vollkommen umkrempeln. In ihr ist die derzeit noch umstrittene Leistungsbezahlung von Professoren enthalten. Der Imageturbo indes wird die Juniorprofessur sein. Sie wird ein bislang völlig unbekanntes Rollenbild schaffen – den jungen Professor.

Generationen von Studenten sind unter Hochschullehrern groß geworden, die vor allem eins waren: in Ehren ergraut. Geschützt von Mauern von Monographien und verschanzt hinter Aufsatztürmen, erwarteten fast immer alte Männer die Studenten in den Beratungszimmern. Schon bald dürfte diese Spezies junge Konkurrenz bekommen: Endzwanziger und Thirtysomethings, die nicht ihre besten Jahre an das Verfassen dickleibiger Habilitationen drangeben.

Denn dieses zweite Buch, wie es im akademischen Milieu genannt wird, soll künftig nicht mehr das Maß aller Dinge beim Aufstieg in eine Professur sein. Die Habilitation wird faktisch abgeschafft. Der Hochschullehrer der Zukunft qualifiziert sich auf einer Juniorprofessur für den Lehrstuhl. Er tritt sie als junger Promovierter an und hat dann sechs Jahre Zeit, sich in der Scientific Community und in der Lehre zu profilieren. Juniorprofessoren bekommen von der Bildungsministerin ein eigenes Budget, um unabhängig von akademischen Ziehvätern zu forschen. Die Bedingungen sollen so werden, wie sie der gerade geehrte Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle vorfand, als er Deutschland 32-jährig Richtung USA verließ.

Die Ersten dieser Profs werden bereits im Frühjahr in den Unis in Marburg, Berlin und Göttingen an den Start gehen. Und sie werden, bei allen Unwägbarkeiten, die im Gesetzgebungsverfahren für ihren genauen Status noch stecken, voraussichtlich mehr Beschleunigung in die Hochschulen bringen als alle bisherigen Versuche, die Studienzeiten zu verkürzen. Denn es wird erstmals einen Anreiz bieten: Neu immatrikulierte Studenten werden vor Augen haben, dass eine Professur kein fernes Ziel ist, sondern ein in absehbarer Zeit erreichbarer Job. Und die Uni wird etwas sein, was man lange nicht von ihr behaupten konnte: attraktiv.

CHRISTIAN FÜLLER, 37, Bildungsredakteur der taz, ist Diplompolitologe und European Master of Public Administration. Er hat in München, Berlin, Leipzig und Rotterdam studiert