: Darbietung von Unerfreulichem
■ Mehr Galgen als Humor: Sibylle Berg und Wieglaf Droste lesen heute Abend Oktoberliches in den Kammerspielen
Es ist Oktober, es ist Zeit für Frau Berg. Zeit für die Schriftstellerin, sich aus ihrem Domizil im Tessin oder von sonst wo aufzumachen in die Bundesrepublik, um die Früchte der Herbst-Depression aufzusammeln. Sibylle Berg ist die Frau, die es schafft, sogar Menschen ausgeglichensten Gemütes, die sich eben noch des schönen Tages erfreuten und dem Vogelsange lauschten, alsbald nach der Lektüre Bergscher Gedanken zu düsteren Gesellen zu transcodieren, bar jeden Lebensmutes in der Sofaecke sitzend und schale River Cola nippend.
Wenn Herr Droste auch noch mitkommt, könnte man eigentlich nur lachen, liest man in der Pressemitteilung der veranstaltenden Hamburger Kammerspiele, sie wünschten sich einen „möglichst depressionslosen“ Abend. Schade, dass man nicht mehr lachen kann vor lauter Tristesse.
Sibylle Berg liest Herrengeschichten, und man ahnt, was kommt. Am Ende werden wahrscheinlich wieder alle tot sein wie in ihrem Sex II, und man wird sie um ihren Tod beneiden, weil das Leben und der Alltag noch viel schlimmer sind. Menschen, die geliebt werden wollen, werden nicht geliebt, Menschen, die Freunde suchen, finden keine. Menschen, die nie böse sein wollen, werden es. Frau Berg ist die Hohepriesterin der Verzweiflung, und ihre Gemeinde verehrt sie darob kultisch.
Da sind wir rasch und übergangslos beim Stichwort Wiglaf Droste gelandet. Droste ist Ostwestfale, was von Natur aus nicht unsympathisch ist. Dementsprechend ein Sturkopf, der erst zufrieden ist, wenn alle „Kreuziget ihn“ schreien und er selber damit gemeint ist. Droste ist ein verlässlicher Zulieferer der Provokation. Gilt es, Leserbriefspalten in der taz zu füllen, bedarf es nicht viel: Nur eines Anrufes bei Wiglaf Droste, er solle doch bitte mal etwas über die Trauerbetrunkenheit nach dem 11. September schreiben oder über Lichterketten oder über evangelische Friedenskreise oder Frauengruppen. Droste schreibt brav, was von ihm zu erwarten ist – die ganze Welt regt sich auf, kündigt wahlweise ihr Abo oder schreibt hymnisch glühende Liebes- und Bekennerbriefe. Peter Ahrens
Sibylle Berg und Wiglaf Droste lesen heute, 20 Uhr, aus ihren Werken Das Unerfreuliche zuerst – Herrengeschichten und Das Paradies ist keine evangelische Autobahnkirche, Kammerspiele
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