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„Desertiert jetzt“

■ Bundestreffen der Totalverweigerer warnt in Hamburg: Krieg bringt niemals Gerechtigkeit oder Freiheit

„Verweigert alle Kriegsdienste! Desertiert jetzt!“, lautete gestern standesgemäß die abschließende Erklärung des dreitägigen Bundestreffens “Butre“ – der Totalverweigerer in Hamburg. 35 Pazifisten, die Wehr- und Zivildienst gleichermaßen ablehnen, waren im Jugendzentrum „Just“ in Ohlsdorf zusammengekommen. Im Mittelpunkt des Treffens stand die aktuelle Weltlage. „Das Einschreiten der Amerikaner in Afghanistan ist sinnloser Gegenterror, unter dem vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hat. So lässt sich der Terrorismus nicht besiegen“, sagte Jan Reher von der Hamburger Gruppe „Die Desertöre“. Krieg könne niemals Gerechtigkeit oder Freiheit bringen, er produziere immer Gewalt und Unterdrückung.

Die Kriegsgegner warnten auch vor der „Militarisierung im Inneren“ in der Folge der Anschläge vom 11. September. „Alles, was danach in Europa passiert ist, dient der Einschränkung der Freiheit - von der Rasterfahndung bis zum verstärkten Einsatz des Verfassungsschutzes“, kritisierte Jörg Eichler aus Dresden. Die Totalverweigerer forderten, sich diesen Entwicklungen entgegenzustellen: „Das bedeutet nicht nur, den Kriegsdienst, sondern auch jeden Zwangsdienst zu verweigern.“ Das „militärische System“ stütze sich nicht nur auf die direkt beteiligten Soldaten, sondern auch auf Ersatzdienstleistende, die im Rahmen zivilmilitärischer Zusammenarbeit zur aktiven Teilnahme an der Kriegsführung gezwungen werden können. So sei beispielsweise der Einsatz von Blindgänger entschärfenden Zivis im Verteidigungsfall durch das Grundgesetz gedeckt.

Pro Jahr werden 30 Fälle von Totalverweigerung bekannt. „Die Dunkelziffer dürfte aber fünfmal höher liegen“, erklärte Detlev Beutner. Wer neben der Bundeswehr auch den Zivildienst verweigert, macht sich strafbar. Die Urteile reichen zurzeit von der Einstellung bis zu zwölf Monaten Haft. Insgesamt sechs Rechtshilfefonds mildern zumindest das finanzielle Prozessrisiko der Verweigerer.

Wehrpflichtgegner haben in Hamburg Tradition. Zuletzt stand Jan Reher vor Gericht. Nach einem sensationellen Freispruch für den „Gewissenstäter“ vor dem Amtsgericht Harburg verurteilte die zweite Instanz den Studenten im Mai zu sechs Monaten auf Bewährung. Das Urteil des Landgerichts ist mittlerweile rechtskräftig.

Von 1986 bis 1994 sorgte die ers-te Generation der heute zehn Köpfe zählenden „Desertöre“ für Aufsehen. Am 1. Oktober 1986 hatten zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vier Kriegsdienstgegner Bundeswehr- und Zivildienst „im Kollektiv“ verweigert: Heiko Streck (zehn Monate ohne Bewährung), Frank Deutsch (neun Monate ohne Bewährung), Dirk Wildgruber (2000 Mark Geldstrafe) und Sören Sieg (Verwarnung). Die Pazifisten ließen während einer Bürgerschaftssitzung Flugblätter auf die Abgeordneten segeln, verhängten das Kriegerdenkmal am Dammtor mit Transparenten und beanspruchten politisches Asyl bei der GAL. 1994 geriet der heute 41-jährige Streck als „Hamburgs Dr. Kimble“ sogar bundesweit in die Schlagzeilen: Der per Haftbefehl Gesuchte war fünf Jahre auf der Flucht – bis zur Verjährung seiner Strafe. Volker Stahl

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