: Mitleid mit Steffel
Sie haben alle ihre Defekte: Auf was für Gedanken man so kommt, wenn man ausgerechnet in ein Wahllokal zur Stimmabgabe eingeladen wird, das nach Thomas Mann benannt ist
von JOCHEN SCHMIDT
Als Ostberliner sollte man sich eigentlich jedesmal freuen, wenn man wählen darf. Man sollte sich schick anziehen und mit Frau und Kinderwagen losziehen, um feierlich falten zu gehen. Es ist ja nicht mehr so, dass von der Wahlkommission dafür gesorgt wird, dass in der Wahlkabine ein abgebrochener Bleistift liegt und man auf der Tischdecke nicht schreiben kann.
Aber wer nicht einsieht, dass er freiwillig eine U-Bahnkarte kaufen soll, obwohl der Zug doch auch ohne ihn fahren würde, wird auch nie verstehen, dass eine einzelne Stimme irgendetwas beeinflusst. Vor allem, wenn die Wahlprognosen im Fernsehen schon fast mit dem Endergebnis übereinstimmen. Dann könnte man doch viel Geld sparen und einfach bei den Prognosen bleiben und die Wahl ausfallen lassen. Wie machen die das? Ist die Masse so berechenbar? Und dass es so ist, gilt auch noch als Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht wie in Bulgarien, wo plötzlich alle den König wählen, weil sie mit der Regierung unzufrieden sind. Das ist doch kein Grund, jemand anders zu wählen. Mit dem wird man doch auch nicht zufriedener sein. Ich bin ein absoluter Durchschnittsbürger, nicht einmal so vehement unpolitisch wie Thomas Mann, sondern einfach zu sehr beschäftigt, um mich irgendwie einzuordnen. Ich arbeite ja auch freiberuflich, da kommt man mit vielem, was einen stören könnte,gar nicht in Konflikt.
Was ich will
Mehr saubere Landwirtschaft will ich, damit sich die Leute für ihre Region verantwortlich fühlen, weniger Transport, keine neuen Autobahnen. Obwohl, neulich in Griechenland, das war schon klasse, wie schnell und sicher man da plötzlich fahren konnte, nicht zu vergleichen mit der Woche vorher in Bulgarien. Also mit den Autobahnen, das muss man genau abwägen. Geld für Kultur? Eigentlich schon, aber da versickert auch viel im Sand und Hollywood-Filme sind nicht subventioniert und wenigstens gut gemacht. Aber bevor es für neue Panzer ausgegeben wird, vielleicht lieber doch für Kultur. Mehr Geld für Scheißjobs, die keiner machen will. Insgesamt einfach weniger Bürokratie, mehr Enthusiasmus, obwohl meine Unlust bei der Stimmabgabe ja vielleicht ansteckend ist.
Habe ich auch konkretereZiele? Ich will, dass die Fußgängerbrücke an der Storkower Straße nicht abgerissen wird. Ihre Renovierung würde lächerliche 20 Millionen kosten, das ist nicht einmal der Jahresetat des Berliner Ensembles. Keine Frage, das BE muss für ein Jahr geschlossen werden, die Kantine kann ja weitermachen. Dafür bleibt ein Eckpfeiler meiner Kindheitstopographie erhalten, und ganz nebenbei die längste Fußgängerbrücke Europas, ein Baudenkmal. Wenn man auch noch die Deutsche Oper schließt, oder dort zumindest nur noch die Opern spielt, die nicht gleichzeitig in Komischer Oper und Staatsoper laufen, könnte man für das Geld auch das Lenin-Denkmal wieder aufbauen, das würde der Stadt als Tourismus-Attraktion Millionen bringen, man kann es ja mit Efeu bepflanzen, das wäre dann gleich noch Kunst und überhaupt wegen der Geschichte und so weiter.
Ich will, dass mit Baulücken behutsamer umgegangen wird, weil jedes weggebombte Haus überraschende Perspektiven öffnet. Jüngstes Beispiel: Danziger, Ecke Schönhauser. Gleich neben dem Friseur „Modische Linie“ eine Lücke, die den Blick auf eine wirre Hinterhoflandschaft mit Fabriketagen und großem Backsteinschornstein freigibt. Wird gerade zugebaut, noch ein Wohn- und Geschäftshaus mit anthrazitgrauer Steinplattenfassade und eckigen Fenstern wie bei den Schrankwänden von Möbel-Hübner. Ist wirklich so wenig Platz in dieser Stadt? Ich will, dass die großen Kinos dazu verpflichtet werden, Filme in Originalversionen zu spielen. Der nächste Schritt wäre dann das Fernsehen, auch hier nur noch Originalversionen, wenigstens im Zweikanalton. Aber das ist vielleicht nicht Landesbefugnis, also soll B1 eine Vorreiterrolle spielen. Gegen diese Maßnahme spricht nichts, alle würden spielerisch Sprachen lernen.
Ich kenne ein Kind, das auf die Hilfsschule geht, weil es nie lesen und schreiben lernen wird, aber es kann mehr englisch als ich in seinem Alter, weil es immer die neue Bravo-Hits hört. Genauso stelle ich mir das auch mit Kino und Fernsehen vor. Wer wird diese Minimalforderungen, die mir auf die schnelle einfallen, umsetzen? Ich sehe keinen.
Wählen wie die Mutti
Nach dem System meiner Mutter müsste ich den wählen, der am wenigsten Stimmen bekommt, damit er auch was abkriegt und nicht traurig ist. Sie hat das so in Mannheim gemacht, wo man 20 Punkte an die Kandidaten zu verteilen hat. 5 Punkte für den kommunistischen Kandidaten, der hat einen Bonus, weil ihr Getränkehändler den gut findet, der ihr immer die Flaschen hochträgt, obwohl er das gar nicht müsste. 5 Punkte für die SPD, weil ihr Vater bei den Nazis für die im Knast saß. Und die restlichen 10 Punkte paritätisch für eine Griechin, eine Türkin und den Sohn eines Kollegen, weil er meinen Vornamen hat. Aber wer wird in Berlin am wenigsten Stimmen bekommen? Sie haben ja alle ihre Defekte. Am Ende denken viele Leute wie meine Mutter, und Steffel wird aus Mitleid gewählt. Er tut ja sogar mir leid. Das war doch wirklich gemein von dem anderen, sich mit seiner Homosexualität bei den ganzen aufgeschlossenen Hausfrauen einzuschleimen.
Schule machen
Ich muss zugeben, ich werde nachher in der Kabine lange rätseln. Trotzdem gehe ich hin, auch weil das Wahllokal ein reizvoller Ort ist. Thomas Mann war ja nicht unbedingt ein Freund des Volkswillens, der sich über Abstimmungen gegen seinen eigenen Willen durchsetzt, deshalb amüsiert es mich, wenn ich zur Wahl in die Thomas-Mann-Schule gehen muss. Es ist natürlich etwas beklemmend, man hat fast Angst, dass sich eine Falltür öffnet und sie einen hier behalten. Man beschließt, erstmal für ein paar Wochen keine Schulnostalgie mehr zu pflegen. Es sieht nämlich noch alles aus wie früher. Man würde sich nicht wundern, wenn unter den Kinderbildern auf den Gängen: „Wir malen Fahnen zum 1.Mai“ stände. Die Motive machen ja nicht so deutlich, worum es auf ihnen geht. Das Thema könnte auch: „Wir werfen Hilfssendungen über Kabul ab“ geheißen haben. Schnell weitergehen und die Stimme in die Urne werfen. Wird schon nichts schlimmes damit angestellt werden, die Urne heißt ja sicher nicht zufällig so.
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