Das Grafitto sagt „ich“

In Wort und Bild: Michael Rutschkys privates Fotoalbum „Berlin. Die Stadt als Roman“ lässt den Ort einfach Stadt sein

Das erste Foto auf der linken Seite zeigt eine Brache, eingefasst von Bäumen – eine Sandpiste, mitten in der Stadt. Rechts am Bildrand sieht man im Hintergrund den Fernsehturm am Alexanderplatz, am linken Bildrand sind noch die Hochhaustürme des Potsdamer Platzes zu erkennen. „Damals“, liest man auf der Seite gegenüber, „konnte man dort beobachten, wie die Gleisanlagen des Anhalter Bahnhofs umgearbeitet wurden. Die Staatsmacht kehrte zurück, Perfektionierung der Infrastruktur. In der Stadt wuchs kurzfristig eine Wüste heran, erschreckend oder entzückend, wie du willst.“ Die Schwarzweißfotos wie der Text stammen von Michael Rutschky, auch als taz-Autor wohlbekannt.

Rutschky, der in seinen Essays Reportage und Reflexion, Fallstudie und Theorieausschweifung gerne mischt, mixt also auch – und da ist er ein besonderer, ganz einzigartiger Fall – Bild und Text. Und er traut sich zu, in der Abfolge seiner hundert Fotos und Texte „Berlin – Die Stadt als Roman“ zu haben. Es ist – das zeigt schon die Eröffnung – nicht das übliche Besucherprogramm, das diesen Stadt- oder auch Fotoroman ausmacht. Dem Forscher, Flaneur und Fotografen geht es nicht um die Saga vom Phönix aus der Asche. Die Erholung und die Wiedergeburt der Stadt nach 1989 zeigen sich bei ihm eher als Reparatur. Und fast wird sie gar nicht bemerkt, denn Rutschkys Blickwinkel ist der desjenigen Stadtbewohners, der, wie der Berliner sagt, im Tiefsten wohnt und die Stadt auch gerne mal Stadt sein lässt, vor allem da, wo sie sich offiziell gibt. Er fühlt sich also in seinem Kiez meistenteils gut aufgehoben und muss so weit nicht umherschweifen – auch wenn sein Band im fernen Osten, in Krakau endet. Das Foto, das die Staatsmacht zurückkehren sieht, ist jedenfalls nicht weit von seiner Wohnung entfernt aufgenommen, von der Monumentenbrücke aus, die Kreuzberg und Schöneberg verbindet.

Zwischen der Stadtbrache und der Schlussszene vom Hauptplatz in Krakau spannt sich ein Bilderbogen, der weitestgehend privat ist. Die Stadtmomente erscheinen absichtslos, aber durchweg treffend gefunden; einfach „ich“ sagt beispielsweise das Graffito, das gleich auf das Bild der Stadtbrache folgt, und so braucht der Autor dem Leser nicht weiter zu erklären, wo die Erzählperspektive liegt. Trotzdem Michael Rutschkys Berlin keine Haupt- und Staatsaktion ist, ist es deutlich Metropole. Der Autor scheut die touristischen Orte keineswegs oder Großereignisse wie Love Parade, Filmfestspiele und Berlin-Marathon. Nur begegnet Rutschky ihnen mit dem Blick des urbanen Menschen, der kühl seinen Schlagschatten ins Bild legt, wenn er mit dem Rücken zur Sonne fotografiert. Schließlich kommt der Marathon jedes Jahr bei ihm in der Nähe vorbei.

„Berlin. Die Stadt als Roman“ ist ein ausgesprochen schön gemachtes Buch, in einem angenehm handhabbaren Mittelformat, mit sehr sorgfältigen Abzügen im Duotondruck. Der raffinierte Einfall endlich mit den kleinen Lageplänen im unteren rechten Eck der Textseite macht die locker lässige Montage der Bilder perfekt. Die ergänzen sich nicht nur und spinnen Beobachtungen über mehrere Stationen fort, sondern sie fallen sich – metaphorisch gesprochen – auch mal gerne ins Wort. Sie nehmen die Gegenposition ein, und doch wird der Leser und Betrachter dadurch nicht nur irritiert, sondern mit dem fraglichen Aspekt noch einmal genauer konfrontiert.

BRIGITTE WERNEBURG

Michael Rutschky: „Berlin. Die Stadt als Roman“. Ullstein Verlag, Berlin 2001, 200 S., 100 S/W-Fotos, 46,94 DM