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Stöhnen aus der Plastikröhre

Das Neue ist nur mehr Erinnerung: vom alten Avantgarde-Anspruch zur neuen Bescheidenheit musikalischer Beiläufigkeit – die Donaueschinger Musiktage 2001 boten alle Schattierungen auf

von BJÖRN GOTTSTEIN

Bei den Proben habe das Stück zunächst wie ein einziger Brei geklungen, erklärt Alvin Lucier. Der 69-Jährige hatte schon befürchtet, sich bei seinem ersten Gastspiel in Donaueschingen mit einem achselzuckenden „Ich bin einfach kein ausgelernter Komponist“ herausreden zu müssen. Doch nach dem Konzert war er sichtlich zufrieden; sein Orchesterstücks „Ovals“ gehörte zu den überzeugendsten Beiträgen der diesjährigen Musiktage.

Lucier ist Konzeptkünstler. Er befreit seine Stücke vor Anspruch und Gestus der Avantgarde und besteht stattdessen auf dem Begriff „experimental music“. Wie etwa klingt das gläserne Oval einer Tischplatte, wenn es mit Zollmaß und Logarithmustafeln in die gleitenden Notenwerte zäher Streicherglissandi und schwerfälliger Sinustöne übersetzt wird? Schwerelos, schwebend – ein von silbernem Glanz durchzogener akustischer Sog.

„Ovals“ ist in mehrerlei Hinsicht ein Angelpunkt des diesjährigen Festivals gewesen. Denn aller Reife und kompositorischer Souvernität zum Trotz hat Lucier weder Zusammenhänge noch Ausdruck im klassischen Sinne auskomponiert. Es ist ebendiese Bescheidenheit musikalischer Beiläufigkeit, die sich Donaueschingen in diesem Jahr auf seine Fahnen geschrieben hat.

In den vergangenen Jahren sind die Musiktage zum Sinnbild ästhetischer Stagnation stilisiert worden. Es klänge doch alles irgendwie vertraut. Der große Wurf, auf den neue Musik wartete, blieb aus. Die Festivalleitung stellte im Gegenzug die Frage nach dem Neuen in der neuen Musik, nach Konsistenz und Bedeutung ästhetischer Innovation. Ein hastig entworfenes Modell könnte lauten: Erstens, ein Kunstwerk verstehen heißt, die Frage verstehen, auf die es antwortet (Gadamer); die Frage, die ein Werk aufwirft, und der Befriedigungsgrad der Antwort, die es anbietet, entscheiden über seine Güte. Zweitens, neue Fragen an die Musik können aus ihr selbst heraus entwickelt werden; sie können von außen an sie herangetragen werden.

Komponisten, die eine klassische Ausbildung durchleben und ihr musikalisches Selbstverständnis anhand des herrschenden Kanons entwickeln, sind mit dem notwendig falschen Bewusstsein einer Ideologie der neuen Musik ausgeliefert. Sie können keine von der Musikgeschichte befreiten Kategorien entwickeln. Künstlern, die beiläufig Akustisches abwerfen, ohne über verbrieftes Handwerk zu verfügen hingegen fehlt der Zugang zu Techniken, die Kunstmusik verbürgen. In Donaueschingen war noch jede Schattierung zwischen derartigen Extremen vertreten.

Im Installationsraum: Bastler Christoph Schläger stellt seine Klangerzeuger mit dem biederen Charme wissenschaftlicher Verblüffungsvorführungen aus: Playmobil goes Sciencefiction, überall hängen bunte Schläuche, die wild schlackern, während es aus Plastikröhren mumpfig stöhnt. Wäre die musikalische Faktur nicht so schlicht, wäre man geneigt, eine Epoche der neuen Niedlichkeit einzuläuten. Im Konzertsaal: Clemens Gadenstätter ist ein Opfer der Institutionen. Sein Stück „Polyskopie“ ist perfekt gesetzt; der höhenlastige Orchestersatz glitzert wie Meerschaum. Man erliegt der handwerklichen Perfektion, ohne den Vorwurf der Technokratie ausräumen auch nur zu wollen.

Im Freien: Die französischen Performancekünstler Jacques Rémus und Jérôme Jeanmart verwandelten ein leer geschlachtetes Karussell in eine gigantische Spieluhr, die mit abstehenden Knüppeln auf Schlagwerk eindrischt. Wiederum im Konzertsaal: Komponist James Dillon, der nicht nur wie blöd auf seine Autodidaxe pocht, sondern der überdies einige der dichtesten, bestklingendsten Partituren der vergangenen Jahre geschrieben hat, zeigt sich angesichts der Herausforderung eines großen Orchesters schlicht überfordert. Sein „La Navette“ erzählt die Geschichte der Philomele, die im Weben Zeugnis ihrer eigenen Vergewaltigung ablegt: Das gut gewählte Thema verkommt zu einer sinfonischen Dichtung, die man zu Beginn des 20. Jahrhunderts so notengetreu Alexander Zemlinsky zugetraut hätte.

Aber auch die vermeintlich gewichtigen Beiträge zur Musikgeschichte verdanken sich einer Verpflichtung gegenüber der Musikgeschichte, die nicht auf blindem Gehorsam beruht. Alvin Lucier ist ein Beispiel, der Komponist Beat Furrers ein zweites. In seinem „Orpheus' Bücher“ vibriert der Orchesterapparat wie eine festgezurrte Maschine, wird im Gestenreichtum ein rechtmäßiges Theater der Töne inszeniert.

Dass das Neue kein echtes Anliegen der neuen Musik mehr sein kann, wird spätestens mit der Uraufführung von Dieter Schnebels Musiktheater „NN“ deutlich. Schnebel, früher einmal als deutscher John Cage gehandelt, stellt den experimentellen Gestus der 60er mit einer peinlichen Selbstverständlichkeit aus, dass einem die Haare zu Berge stehen. Man mag Anerkennung finden für die dramaturgische Souvernität, mit der Schnebel seine Spannungsbögen entwirft. Das amateurische, sich selbst genügende, jedweder Präsenz entbehrende Rumgealbere auf der Bühne gehört allerdings entschieden der Vergangenheit an. Hier endlich wird klar: Das Neue ist nur mehr eine Erinnerung.

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