Profil neu erfinden, zur Mitte hin

Wie geht es weiter mit der GAL nach dem Scheitern der rot-grünen Koalition? Zur Debatte über die Zukunft der Hamburger Grünen Anmerkungen, Thesen und Vorschläge  ■ Von Willfried Maier

Das Wahlergebnis

Wir haben die Wahlen in der Mitte verloren, nicht an der linken Flanke. An den Regenbogen haben wir von 42.000 gegenüber 1997 verlorenen Stimmen etwa 3.700 abgegeben, an SPD, Schill, FDP und CDU etwa 33.400. Alle Überlegungen, die darauf hinauslaufen, nun müsste wieder mehr „grünes Profil“ im altvertrauten Sinne gezeigt werden, um die Scharte auszuwetzen, gehen am Problem vorbei. Die Wähler in der Mitte und nach rechts haben wir nicht aus Mangel an grünem Profil, sondern wegen unseres grünen Profils verloren. Wobei Profil nicht nur unsere programmatische Ausrichtung meint, sondern die Gesamterscheinung unserer Partei, vom Personal über den Argumentationsstil bis zum Design. Wäre es anders, ließe sich die bundesweite Kette unserer Wahlniederlagen nicht erklären. Wobei diese Niederlagen, anders als Antje Radckes Ursachenanalyse meint, nicht erst mit der Regierungsbeteiligung im Bund beginnen. Schon die Bundestagswahl 1998 selbst und die Niedersachsenwahl im Frühjahr 1998 brachten uns ein schlechteres Ergebnis als zuvor. Die letzte Wahl, bei der die Grünen knapp dazu gewonnen haben, war die Hamburger Bürgerschaftswahl von 1997.

Ein Rückkehr zum Profil und Politikstil einer radikalgrünen Prostestpartei ist aus subjektiven und objektiven Gründen unmöglich. Aus subjektiven, weil unsere Wähler uns das nicht abnehmen würden. Aus objektiven, weil die Protestmotive, aus denen die Grünen entstanden sind, heute in der Gesellschaft nur noch eine schwache Rolle spielen. Das wird sich auch so leicht nicht ändern: Die normalerweise am leichtesten protestgeneigten Jugendjahrgänge sind immer schwächer besetzt. D.h. aber: Ihre individuellen Zugangs- und Karrierechancen in der Gesellschaft werden besser, ihre kollektive Kraft schwächer. Das Gemeinwesen wird ihnen immer stärker als eine Last der vielen alten Menschen erscheinen, dem man besser ausweicht. Das politische Engagement jüngerer Leute ist heute schon schwach ausgebildet. Keine andere Altersgruppe hat sich so wenig an den Bürgerschaftswahlen beteiligt wie die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen: Nur 49,5 Prozent gaben ihre Stimme ab, 11,5% weniger als vier Jahre zuvor. Natürlich wird es unsere Aufgabe sein, junge Leute für politisches Engagement zu gewinnen. Diejenigen aber, die wir gewinnen, werden mehrheitlich keine Rebellen sein.

Elemente einer sozialen Bewegung hat allein die Schill-Partei in den Wahlkampf hineintragen können. Sie hatte die mit Abstand größten Wahlveranstaltungen – und das in Stadtteilen, in denen die politische Beteiligung ansonsten unterdurchschnittlich ist, wie in Wilhelmsburg. Ihre bestes Stimmergebnis erzielte sie mit 21,8% bei der Altersgruppe 60 und älter (GAL hier 1,4%). Aber auch bei den 18- bis 24-Jährigen war sie mit 16,1% stärker als die GAL (11,4%). Nur bei der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen lagen wir mit 15,5% der Wähler noch vor der Schill-Partei mit 14,6%.

Die stärkste Altersgruppe unserer Wähler lag bei dieser Bürgerschaftswahl erstmals zwischen 35 und 44 Jahren, vorher zwischen 25 und 34 Jahren, d.h. unsere Wähler wachsen durch. Wir stehen in der Gefahr, die Partei einer politischen Generation zu werden. Das muss zu tun haben mit einer Sonderstellung, die wir im Parteiensystem einnehmen und die uns zugleich in ein gespanntes Verhältnis zu unseren Anhängern bringt.

Das Parteiprofil

Wenn jetzt viel davon die Rede ist, dass wir „wieder mehr grünes Profil“ zeigen müssten, stellt sich deshalb die Frage: Welches Profil und in welcher Richtung? Die weitaus meisten Wählerinnen und Wähler sehen sich irgendwo in der Mitte oder nahe bei der Mitte. Das gilt auch für unsere Anhänger und für die von uns erreichbaren Menschen. Also stellt sich unser wirkliches Problem so, dass wir im Kampf um diese Wähler in der Mitte ein spezifisch grünes Profil entwickeln müssen. Wir müssen dort zugleich unverwechselbar und attraktiv sein.

Das kann weder gelingen durch Rückgriff auf altes radikalgrünes Profil – das wäre für die verlorenen Wähler nicht attraktiv, noch durch Rückgriff auf Elemente im Politikangebot unserer Konkurrenten. Das wäre nicht unverwechselbar. Oder in verkürzter Form: Ich halte weder das von Antje Radcke und Antje Möller (Fraktionschefin, d. Red.) in erster Analyse vorgeschlagene Modell – „Zurück zu den Wurzeln bei Initiativen und Verbänden“ – noch das Modell von Kurt Edler – „Auf zu neuen Ufern mit mehr Repression“ – für richtig und aussichtsreich. Wir stehen vielmehr vor der schwierigen Aufgabe, unser Profil zur Mitte hin neu zu erfinden – und zwar nicht als Import von anderen, sondern aus dem heraus, was wir selber sind.

Das kann nicht so geschehen, dass wir über die eine oder andere Änderung im Katalog unserer Forderungen diskutieren. Am meisten gefehlt hat uns im Wahlkampf die Fähigkeit, die Gesamtrichtung unseres Handelns plausibel auszudrücken. Wir waren unfähig zur eigenen thematischen Konzentration und zugleich zur verständlichen Auseinandersetzung mit den Themen, die unsere politischen Gegner gegen uns durchgesetzt hatten.

Unser Profil können wir nicht dadurch schärfen, daß uns bestimmte Themen wichtig sind und andere weniger, wie das offenbar Antje Radcke vorschwebt mit ihrem Vorschlag der thematischen Konzentration. Über die politische Tagesordnung verfügen wir nicht. Das haben wir eben im Wahlkampf erfahren, in dem „unsere“ Themen nicht gefragt waren. Wir können zwar darum kämpfen, auf die öffentliche Tagesordnung Einfluss zu nehmen, aber das Ergebnis ist letztlich unverfügbar. Deshalb müssen wir unser Profil auch an solchen Themen bewähren, die gegen unseren Willen auf die Tagesordnung gesetzt sind.

Hinzu kommt: Durch Konzentration auf bestimmte Politikfelder gewinnen wir selbst bei „unseren“ Themen kein Profil, denn auf diesen Feldern bewegen sich auch andere. Profil gewinnen wir auf allen Feldern nur durch die Antworten, die wir – im Unterschied zu anderen – geben. Und dieses zusammenhängende Profil, das sich durch alle Felder als das Spezifische unserer Haltung durchzieht, das müssen wir schärfer bestimmen.

Im Vorwahlkampf haben wir versucht, zentrale Positionsbestimmungen für die GAL auszuarbeiten: Die GAL stehe dafür, grundsätzlich der Politik Vorrang vor der Wirtschaft einzuräumen. Wir haben das nicht weiter ausgearbeitet. Ich glaube aber, daß hier der Schlüssel liegt für die Sonderstellung der Grünen, an dem sich unser Schicksal als politische Partei entscheidet.

Vorrang der Politik gegenüber der Wirtschaft kann für uns nur heißen: Auf mehr Demokratie setzen, auf Stärkung der Demokratie durch Partizipation. Es geht für uns darum, möglichst viele Menschen aus bloßen Privatleuten zu Bürgerinnen und Bürgern zu machen. Denn ohne Verankerung in den Handlungsmotiven der Menschen kann es den Vorrang der Politik unter unseren Bedingungen nicht geben.

Die spontanen Handlungsmotive der Menschen in unserer Gesellschaft sind meist nicht gemeinwohlbezogener, sondern privater Natur. So ist die bürgerliche Gesellschaft verfasst: Jede und jeder verfolgt sein/ihr privates Interesse. Das liberale Versprechen dazu lautet, dass solches Verfolgen von Individualinteressen unter Bedingungen freier Konkurrenz zum wirtschaftlichen Optimum für die Gesamtgesellschaft führen wird. Liberale Politik ist deshalb vorwiegend interessiert an der Sicherung individueller Freiheitsrechte. Das Gemeinwesen und der Mensch als zoon politikon kommen in diesem Modell nicht vor, sondern lediglich der homo oeconomicus – das seine individuellen Interessen optimierende Wesen. Politik ist dann lediglich Aufrechterhaltung des Rechtsstaates. Wenn die Grünen sich darauf als auf ihren Schwerpunkt einlassen, dann können sie den Löffel abgeben. Dann werden sie nicht benötigt. Das erledigt auch die FDP.

Die Grünen neigen aber dazu, gerade das zu tun. Und zwar mit den besten Absichten. Inzwischen wird die Verteidigung individueller Rechte in Politik und Stimmung der Partei wichtiger genommen als der Ausbau von Beteiligungsmöglichkeiten und die Erweiterung von Demokratie. Die meisten Grünen haben nicht einmal wahrgenommen, dass hier ein Widerspruch bestehen kann. Demokratie bedeutet Mehrheitsherrschaft – auf welchen Ebenen auch immer. Grund- und Menschenrechte beanspruchen Geltung auch gegen den Mehrheitswillen. Das ist im Prinzip auch gar nicht anzuzweifeln, sondern hochzuhalten. Wenn aber der besondere Schutz von Minderheiten zum grünen Leib- und Magenthema wird, dann entwickeln wir uns zur liberalistischen oder meinetwegen linksliberalen Partei und schneiden uns von dem demokratischen Bewegungsimpuls ab, aus dem wir ursprünglich herkommen.

Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, was im Augenblick am meisten gefährdet ist: Die Rechtssicherheit des Individuums oder die Fähigkeit des Gemeinwesens, Macht zu entwickeln auch gegen private Interessen. Ich glaube, dass mangelnder Vorrang der Politik das gegenwärtige Hauptproblem ist. Die verbreitete Unzufriedenheit mit den politischen Parteien, die Klage über Selbstherrlichkeit und gleichzeitig über Handlungsunfähigkeit von Politikern, der Eindruck, ständig übergangen zu werden, sind dafür starke Indizien.

Es entspricht viel eher der Mehrheitsmeinung, dass es in der Republik und in der Stadt eher an Demokratie fehlt als an Rechtsstaatlichkeit. Diese Mehrheitsmeinung findet sich auch in dem Schill-Wahlerfolg wieder. Viele der Schill-Wählerinnen und Wähler sahen sich als die heimliche Mehrheit und fühlten sich durch die Politik des Senats nicht ernst genommen. Sie setzten dann auf eine Partei, die versprach, ihnen entgegenzukommen – im Zweifel auch über den Rechtsstaat hinweg. Die Vernachlässigung demokratischer Motive führt so im Konfliktfall auch zur Gefährdung des Rechtsstaats. Wir müssen hier unser Profil zur Mehrheit hin schärfen, indem wir Formen direkter demokratischer Teilhabe entwickeln und nutzen.

Die Vorschläge

Die folgenden Beispiele sollen verdeutlichen, wie wir das aus der Opposition heraus machen können.

Wir haben noch in der Opposition maßgeblich daran mitgewirkt, dass in die Hamburgische Verfassung Bestimmungen zur Volksgesetzgebung aufgenommen wurden und konnten diese Bestimmungen in der vergangenen Legislaturperiode noch einmal verbessern. Wir haben diese neuen Möglichkeiten bisher nicht genutzt. Allerdings haben wir in den Bezirken schon Erfahrungen mit Bürgerbegehren und mit einem Bürgerentscheid in Bergedorf. Wir sollten von vorneherein darauf setzen, unsere Politik in der Bürgerschaft und in den Bezirksversammlungen mit diesen neuen Instrumenten zu verschränken. Das ermöglicht uns, eine zugleich kritische und konstruktive Oppositionspolitik zu entwickeln. Es erlaubt uns, an dem einen oder anderen Punkt die Machtfrage in der Stadt zu stellen. Und vor allem erweitert es unsere Chancen, neue Bürgerinnen und Bürger für aktives Engagement zu gewinnen.

Der neue Schill/Beust-Senat plant in der Verkehrspolitik eine radikale Wende zu Lasten von ÖPNV-Nutzern, von Radfahrern und Fußgängern und zugunsten einer stadtzerstörerischen Autopolitik. Vielleicht gelingt es uns, dagegen eine große Koalition zustande zu bringen, die zugespitzt wird auf ein Volksbegehren zur Einführung der Stadtbahn. Auf bezirklicher Ebene ließen sich wie z.B. gegen die Erweiterung der Stresemannstraße ähnliche Bündnisse organisieren.

Zur Reform des Wahlrechts läuft ein Volksbegehren, das die Einrichtung von Wahlkreisen für Bürgerschaftswahlen verlangt und zusätzliche Auswahlmöglichkeiten für die Wähler unter den Parteikandidaten. Dieses Begehren sollten wir unterstützen und ihm in der Bürgerschaft Resonanz verschaffen.

Sicherheitskonferenzen haben wir in Altona und in Harburg eingeführt. Obwohl diese besonders in Harburg gelungen ist, gibt es dazu bisher kaum eine öffentliche Wahrnehmung, was wir verändern müssen. Wir sollten uns aber auch nicht darauf beschränken, weitere Sicherheitskonferenzen per Bürgerschaftsantrag zu fordern. Vielmehr müssen wir auch vor Ort versuchen, Treffen zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Polizei- und Verbandsvertretern etc. zustande zu bringen, die sich mit Sicherheits- und Verwahrlosungsfragen beschäftigen und so eine Dynamik in Richtung auf weitere Sicherheitskonferenzen in Gang zu setzen. Wir brauchen in Sicherheitsfragen eine alternative öffentliche Meinung in der Stadt, nicht nur eine von Springer und Schill organisierte.

Die soziale Stadtteilentwicklung steht möglicherweise zur Disposition, zumindest findet sich dazu nichts in den bisher publizierten Koalitionsabsprachen. Es ist aber damit zu rechnen, dass die bisher etablierten Beteiligungsgremien einen gewissen Selbstverteidigungsinstinkt entwickeln werden, den wir unterstützen müssen. Das Beharren auf möglichst offenen Formen der Beteiligung wird noch wichtiger werden als bisher. Weiterverfolgen sollten wir den Ansatz, für soziales Engagement zumindest in ärmeren Stadtteilen Aufwandsentschädigungen zu zahlen.

Im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wird es verstärkte Anstrengungen geben, den Bezug von Leistungen an Gegenleistungen zu binden. Das ist so lange nicht zu beanstanden wie die Gegenleistungen selbst einen aktivierenden und fördernden Charakter für den Empfänger der Leistungen haben und es sich nicht um bloße Schikanen und Kontrollmaßnahmen handelt. Wir sollten in unserer Sozialpolitik stärker als bisher einen aktivierenden und ins gesellschaftliche Leben einbeziehenden Ansatz verfolgen. Dabei stehen für uns Anreize und Freiwilligkeit im Vordergrund. Aber soziale Anerkennung bzw. Missbilligung sind ebenfalls wichtige Faktoren.

Die angeführten Beispiele sollen nicht den Gesamtrahmen unserer Politik skizzieren. Sie veranschaulichen einen Politikansatz, der auf möglichst vielen Feldern einen demokratischen, das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern fördernden, Weg verfolgt. Wir müssten diesen Gesichtspunkt für alle Felder unseres Handelns durchdeklinieren und aus dieser Richtung auch den Hauptwind wehen lassen bei unserer Kritik des neuen Senats. Dabei muss klar sein, dass eine Politik für mehr Demokratie natürlich auch Menschen ins politische Leben holt und an Entscheidungen beteiligt, die in vielen sachlichen Fragen andere Auffassungen vertreten als wir. Das müssen wir hinnehmen.

Wir gewinnen damit aber ein Terrain, auf dem wir aussichtsreicher für eine gemeinwohlbezogene Politik kämpfen können. Bürgerinnen und Bürger haben mehr Verständnis für Fragen der Umwelt, mehr Sinn für die Schönheit der Stadt, entwickeln auch mehr Sorge um schwache Minderheiten als Privatleute, die am Stammtisch schimpfen. Damit ist letztlich auch unseren libertären Idealen am besten gedient, denn Freiheit braucht als Fundament politisches Bürgerhandeln. Sie kann auf Dauer nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger gesichert werden.