„Zwanzig Fenster, fünf Programme“

In der Kunst leben wir immer noch im letzten Jahrhundert. Der Webdesigner, Programmierer und Medientheoretiker Lev Manovich verlangt eine neue Ästhetik, die der Informationstechnik angemessen ist: Auch ein Chat kann ein Kunstwerk sein

Interview VERENA DAUERER

taz: Software, so schreiben Sie in Ihrem neuen Buch, sei eine neue symbolische Form der Gesellschaft. Was heißt das?

Lev Manowich: Ich beziehe mich auf Erwin Panofsky, der einen Gedanken von Ernst Cassirer adaptiert hat. Er sprach darüber, wie die Zentralperspektive in der Renaissance die Sicht der Welt verkörpert hat, die in der bourgeoisen Gesellschaft aufkam. Ähnlich denke ich, dass Programme fundamentale Annahmen über die Gesellschaft beinhalten. Sie verkörpern sie nicht nur, sie machen die Gesellschaft auch möglich. Der Computer ist nicht einfach nur ein kulturelles und mediales Werkzeug für Repräsentationen, es ist auch eine Maschine, die die Informationsgesellschaft ermöglicht. Die Welt kann hierarschisch geformt werden wie das Filesystem, das fast alle Betriebssysteme nutzen. Oder egalitär wie die Struktur des Internets.

Braucht eine freie Gesellschaft ein freies Betriebssystem?

Ich bin gegnüber den Forderungen ziemlich skeptisch, die im Namen der Open Source aufgestellt werden. Das ist ein weiteres Beispiel, wie politische Ideen sich seit den 60er-Jahren verändert haben. Die globale Idee der Befreiung der Gesellschaft auf fundamentale Weise, wie sie der Marxismus verfolgt, wurde zur Theorie regionaler Gruppen, zur Mikropolitik für lokale Veränderungen. Ob die Gesellschaft jetzt freie Software benutzt oder nicht, ändert nichts an ihr. Seit den frühen 80ern hatten wir endlose Dikussionen über den Postmodernismus und eine neue kulturelle Logik. Und über die Konzepte von Aneignung oder Remix. Dafür ist die Open-Source-Idee nützlich. Es wird interessant, wenn jetzt über neue Lizenztypen geredet wird. Open Source liefert einige Modelle, um über Kultur nachzudenken.

Es scheint also, dass unsere Kultur weniger eine Angelegenheit der originären Kreation wird und mehr zu einer der Aneignung, des Wiedergebrauchs, des Remixes. Aber wir reden über eine konzeptuelle Sprache mit Begriffen, die in sich nicht befriedigend sind. Open Source könnte uns neue, präzisere Begriffe liefern.

Das erfolgreichste Projekt dieser Bewegung, nämlich Linux, steht unter dem Symbol eines ziemlich kindlichen Pinguins. Die „Info-Ästhetik“, die Sie in Ihren Texten fordern, kann das ja wohl nicht sein.

Ich verwende den Begriff „Info-Ästhetik“, weil es mir auch um Telekommunikation geht, um die ganze Aufregung um Handys, Newsgroups und Chats und den PC als Träger des Informationsnetzes. Der Zugang zu Informationen und die Telekommunikation sind ebenso kulturelle Formen, auch wenn dabei keine neuen Objekte entstehen. Es genügt, dass zwei Leute chatten: Das ist der Unterschied zur traditionellen Kultur, in der der Autor ein Werk schafft, das vom Publikum konsumiert wird. Mit meinen Projekten versuche ich herauszufinden, welche visuellen Sprachen sich für die Informationsgesellschaft eignen.

Ich vermute, dass sich die heutige Ästhetik in den 20er-Jahren etabliert hat. Somit benützen wir die alte Ästhetik einer vorangegangenen Periode aus der Industriegesellschaft. Wie kommt es, dass bis jetzt kein fundamentaler kultureller Wechsel stattgefunden hat wie beispielsweise zwischen 1915 und 1925, obwohl es eine ökonomische Verschiebung zum neuen Produktionsmodus und eine kulturelle Verschiebung zum Computer als neuem Mittel der kreativen Repräsentation und Distribution gibt? Damals wurde nach einer neuen Ästhetik für die Industriegesellschaft gesucht. Im Bereich der Kultur konnte man sie nicht finden, weil sich dort alles um Ornamente und Schönheit drehte. Also trug man Industriedesign ins tägliche Leben und in die Kunst hinein.

Heute geht es uns ähnlich. Ästhetik definiere ich nicht im Sinne von Schönheit, sondern als Repräsentation der Welt im kulturellen und logischen Sinne und als Informationsstruktur. Vielleicht findet man sie nicht in CD-ROMs oder interaktiven Romanen, sondern in der Software und im Alltagsgebrauch des Computers. Ich arbeite zum Beispiel an der Installation „Soft Cinema“, die nächstes Jahr im ZKM zu sehen sein wird. Sie beschäftigt sich mit der neuen Filmästhetik der multiplen Bildschirme mit multiplen Informationsströmen, wie man sie bei den Finanznachrichten im Fernsehen findet. Ich möchte wissen, ob sich diese Ästhetik mit der des Erzählkinos verträgt.

Sind die in mehrere Fenster aufgeteilten Nachrichten von CNN eine Adaption von Desktopoberflächen des Computers oder eher eine Montage im tradidtionellen Sinn?

CNN benutzt separate Teilbilder, die zusammen etwas Neues ergeben, was vorher nicht existierte. Es entsteht eine Gestalt aus individuellen Elementen. Die Ästhetik der Montage bedeutet, von Eisenstein bis MTV, die Elemente so zu positionieren, dass sie in Konflikt miteinander treten. Auf Webseiten und im Fernsehen wie bei CNN geht es nicht um Positionierung und Konflikt, sondern um Zugabe von Informationen. Man nimmt ein Textelement und erweitert es durch Bilder und virtuellen Raum. Das ist ein anderes Konzept als bei der Montage. Bei der ging es darum, eine einzelne Botschaft mit einem Informationsstrom durch Elemente und ihre Positionierung in Raum und Zeit zu vermitteln. Aber heute ist Informationseffektivität immer wichtiger und wie man mehr Infos simultan über einen Datenstrom transportieren kann. Dazu braucht man die Montage nicht mehr.

Mike Figgis hat in seinem Film „Time Code“ die Kinoleinwand in vier Fenster aufgeteilt.

Das ist tatsächlich einer der wenigen Versuche, sich dem Modell des Computers zu öffnen. Die Zuschauer sind zwar irgendwie verwirrt, aber wenn man CNN schaut, bekommt man genauso vier bis sechs verschiedene Informationsströme. Die Frage ist nicht, wie viele Infos man erhält, sondern welche Erwartungen man daran hat. Dieselbe verwirrte Person aus dem Zuschauerraum hat kein Problem, am Computer zwanzig Fenster und fünf Programme gleichzeitig offen zu haben. vdauerer@t-online.de