: Regierungsunfähige Anhänger
Wenn die Grünen bei der Bundestagswahl scheitern, sind auch ihre einstigen Sympathisanten schuld: Sie haben den Wertewandel nicht ernst genug gemeint
Die Grünen sind eine zerfranste und zerrissene Partei. Mit den Grünen leben heißt, mehr Ungereimtes und Uneindeutiges auszuhalten, als es sich viele Wähler zumuten möchten.
Die Partei kann es ihren Wählern gar nicht recht machen. „Responsive“ Reaktion, das heißt das Eingehen auf empirische Wählerinteressen, führt bei den Grünen zu Dissonanz. Geht die Partei auf die einen zu, irritiert sie die anderen, umgekehrt aber auch. Krieg, Nicht-Krieg und diverse Zwischenpositionen – eine konsistente Politik lässt sich daraus nicht machen. Wer Eindeutigkeit will, geht zu einer anderen Partei oder bleibt zu Hause. Aber solche Eindeutigkeit hat ihren Preis. In letzter Konsequenz den Untergang der Grünen.
Die Grünen sind eine Wertegemeinschaft, aus der sehr unterschiedliche Politikkonsequenzen gezogen werden können. Grüne Wähler müssen die Frage beantworten, ob dieses Werteband für sie wichtiger ist als die unterschiedlichen Politikpositionen. Bisher gibt es kein übergreifendes Interesse aller Grünen-Anhänger, den politisch organisierten Postmaterialismus trotz seiner hochgradigen Widersprüche zu erhalten.
Von der Kritik an grünen Regierungskünsten ist nichts zurückzunehmen, die Kritik an den Wählern steht noch aus. Was ist von unzufriedenen Grünen-Wählern zu halten, die Ronald Schill als Hamburger Senator ermöglicht haben, indem sie dem Wahllokal fernblieben? Wie kann man grüne Sympathisanten verstehen, die die PDS nicht wegen deren Politik wählen, sondern als modisches Protestvehikel benutzen? Was soll man über den Narzissmus der vielen denken, die – jede und jeder Einzelne – den Grünen 16-mal persönlich mitteilen mussten: „Ihr habt mich enttäuscht.“ (In Berlin sind diese höchst persönlich enttäuschten Wähler schon vor zwei Jahren weggeblieben.)
An zwei aktuellen Beispielen lässt sich sagen, was man aushalten muss, wenn man mit den Grünen leben will. An der Ampelkoalition in Berlin und an der Debatte über eine Feuerpause.
Die Berliner Grünen müssen sich zwischen einer Ampel und dem Gang in die Opposition entscheiden. Vieles spricht für eine Ampel. Die stärkeren Kräfte in der SPD wollen eine Beteiligung der PDS verhindern. Eine klare Mehrheit der Berliner und eine Zweidrittelmehrheit sozialdemokratischer Wähler wünschen sich eine Ampel. Eine durchgreifende Sparpolitik und die Modernisierung der Verwaltung könnten durch eine solche Koalition geschultert werden. Auch für Grüne gelten die Spielregeln: Man geht nicht in eine (rot-rote) Regierung, die schon eine Mehrheit hat. Und: Man flieht nicht in die Opposition aus Angst vor der (Ampel-)Regierung. Unvermeidbar würde diese Regierung ein Probelauf für den Bund. Getestet würden Profil und Regierungsfähigkeit der Grünen in einer Ampel, die nach der Bundestagswahl die einzige Alternative zur großen Koalition sein kann. Ein schwieriger Testlauf: eingeklemmt zwischen einer marktliberalen FDP und einer PDS-Opposition, die die sozialen Folgen einer unabweisbar harten Sparpolitik erbarmungslos populistisch ausbeuten würde.
Zerbröselt das grüne Profil zwischen Markt und Sozialstaat sowie in den Kämpfen um Autobahn und Großflughafen? Es ist eine zusätzliche Belastung für die grüne Gesamtpartei, dass die Fähigkeit der Grünen, sich produktiv auf die Ampelkoalition einzulassen – und dies wird auch das Wählerurteil bei der Bundestagswahl 2002 beeinflussen – unter den extrem schwierigen Berliner Bedingungen und durch einen linken, führungslosen und hoch fragmentierten Landesverband bestimmt wird. Gründe genug, davonzulaufen. Wer aber sollte die Flucht aus der Verantwortung belohnen?
Die Grünen haben die Feuerpause gefordert, nicht die massive Verstärkung aller humanitären Aktionen unterhalb eines Ausstiegs aus dem Krieg. Die Grünen, heißt das, können einen begrenzten, von ihnen selbst als sinnvoll erklärten Krieg nur eine Woche aushalten. Feuer und Feuerpause in einem Atemzug – so kann man nicht regieren.
Die unverbindliche Debatte über die Feuerpause hat ihnen bei der Wahl in Berlin – die PDS im Nacken – wohl eher geholfen. Beim Regieren sind Wähleropportunismus in einer existenziellen Frage und Unernst beim Verfolgen des eingeschlagenen Weges aber eine Schwäche. Nicht sicher ist, dass die Grünen die Bundestagswahl als Regierungspartei erreichen. „Mit den Grünen leben“ – in Zeiten des Krieges eine Herausforderung der besonderen Art: die Nichteindeutigkeit der Grünen auf die Spitze getrieben, das Urteil der Bürger leidenschaftlicher, die Folgen der Entscheidungen weitreichender als bei den meisten anderen Fragen. Und die einfachen Alternativen stehen für den Wähler bereit.
Was bleibt den Grünen an Strategien im Wahljahr? Die Werbung mit Regierungserfolgen? In Grenzen ja, aber das rührt auch an Wunden, die im Regierungsprozess entstanden sind. Eine Strategie des begrenzten Konflikts? Das ausgerechnet jetzt, da die SPD weniger denn je Kompromissbereitschaft zeigen muss, weil alle mit ihr zusammenarbeiten wollen. Die Propaganda des kleineren Übels? Das wäre zu wenig und zu wenig selbstbewusst. Oder etwa Personalisierung? Aber die Grünen werden nicht wegen Joschka Fischer gewählt (und Fischer kann man nicht ohne Grüne wählen).
Eigentlich bleibt nur die Entscheidungswahl des politisch organisierten Postmaterialismus. Ein Ausscheiden aus der Regierung, zumal bei einem schlechteren Wahlergebnis als 1998, wäre das politische Ende eines eigenständigen Postmaterialismus. Die Grünen liefen auseinander, ihre Wertebasis würde politisch heimatlos. Die an die SPD gerichtete Erwartung ist falsch, sie stehe für rot-grüne Werte und Interessen, nur berechenbarer als die Grünen selbst. Insbesondere ökologische und bürgerrechtliche Positionen berücksichtigt die SPD nur, solange sie mit den Grünen koaliert.
Jungwähler orientieren sich übermäßig an aktuellen Themen und Trends, die aber laufen weg von den Grünen. Also müssten die inzwischen Ergrauten ran, wenn sie es ernst gemeint haben mit dem Wertewandel. Scheitern die Grünen bei der Bundestagswahl, wird man über die Partei, mehr aber noch über ihre Träger zu sprechen haben – die die Grünen nicht tragen wollen.
Wähler sind retrospektiv (auch: „nachtragend“), oder sie orientieren sich prospektiv, nach vorne. Das deutsche Politiksystem ermöglicht es, retrospektiv bei Landtagswahlen und prospektiv bei Bundestagswahlen zu sein. Die Grünen müssen, Ansprüche reduzierend, sagen, was von ihnen in Zukunft beim Regieren zu erwarten ist. Und sie müssen, endlich, ihre Lektion beim Regieren lernen. Die Wähler müssen dann sagen, ob ihre Werte eine eigenständige politische Vertretung erfordern und ob sie mit dem grün-alternativen muddling-through leben wollen.
Möglich bleibt, dass man bald feststellen muss: Der Postmaterialismus und seine Anhänger sind regierungsunfähig. Dann wahrscheinlich mit dem Zusatz: They never come back.
JOACHIM RASCHKE
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