: Gefahrengut Lebensmittel
Der BSE-Skandal hat gezeigt, dass die heutige Art der Lebensmittelerzeugung Nachteile für den Verbraucher mit sich bringen kann. BSE ist jedoch nur ein Beispiel dafür, wie die heutige Agrarindustrie Lebensmittel in „Gefahrengüter“ verwandelt
von THORSTEN KLAPP
Katrin M. hat sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden: Bestimmte Lebensmittel kann sie nicht essen, ohne darauf mit lästigen Beschwerden zu reagieren. Sie leidet an so genannten Lebensmittel-Unverträglichkeiten. Jedes Mal, wenn sie beispielsweise in einen Apfel beißt, wird ihr der Appetit durch stechende Kopfschmerzen vermiest.
Eines Tages macht sie eine verblüffende Erfahrung: Sie isst einen Apfel und es passiert nichts – kein Kopfweh, nichts. Katrin M. kann es anfangs nicht glauben. Sie rätselt. Ob es vielleicht damit zusammenhängt, dass es sich bei dem Apfel um ein ungespritztes Produkt aus ökologischer Erzeugung handelte?
Klaus Runow, Leiter des Instituts für Umweltkrankheiten (IFU) in Bad Emstal, kennt derartige Phänomene: „Es gibt tatsächlich Patienten, die Produkte aus dem Bioladen vertragen, gespritzte dagegen nicht. Vor allem mit Chemikalien belastete Menschen reagieren empfindlich auf Rückstände von Agrarchemikalien.“ Bei der vermeintlichen Lebensmittel-Unverträglichkeit handelt es sich also nicht um eine Reaktion auf das Nahrungsmittel als solches, sondern auf die Chemikalien, mit denen das Produkt behandelt wurde. Im Extremfall sind diese Patienten gänzlich auf Ökokost angewiesen, um nicht an den unterschiedlichsten Symptomen leiden zu müssen. Krank durch Agrargifte in der Nahrung?
Pestizide in Obst und Gemüse
Rund 35.000 Tonnen Pestizide, so genannte Pflanzenschutzmittel, werden jährlich auf deutschen Äckern versprüht, damit nicht Insekten, Milben und Schnecken am Ertrag nagen oder gar die Ernte gefährden und nicht Unkräuter das Feld überwuchern. Doch die hochwirksamen Mittel – insgesamt sind in Deutschland über 1.100 Pestizide zugelassen – haften auch am Erntegut. Die amtliche Lebensmittelüberwachung bringt das Dilemma ans Tageslicht. Jedes Jahr werden tausende von Stichproben bei den Erzeugern, auf den Großmärkten und im Einzelhandel entnommen. Überprüft werden die Proben auf ihren Gehalt an Rückständen und die Einhaltung der geltenden Höchstmengen. Werden sie überschritten, dürfen die jeweiligen Lebensmittel nicht mehr verkauft werden.
Die Auswertung der 23.000 Proben aus den vier Jahren 1994 bis 1997 zeigt, dass gut 30 Prozent des in Deutschland erzeugten Gemüses und knapp 50 Prozent des importierten Gemüses Rückstände aufwiesen. Die Grenzwerte wurden hierbei von 1,4 Prozent der deutschen und 4,6 Prozent der ausländischen Proben überschritten. Beim Obst sah die Situation deutlich schlechter aus: 60 Prozent der Proben wiesen messbare Rückstände auf. Die Grenzwerte wurden vor allem beim eingeführten Obst überschritten: 5,9 Prozent. 1997 fielen insbesondere die Tafeltrauben auf: Höchstmengen-Überschreitungen zu 14 Prozent. Auch 1998 wies gerade das Obst hohe Werte auf: 70 Prozent der Erdbeerproben enthielten messbare Rückstände, wobei jede zehnte spanische Erdbeere die kritische Höchstmarke überschritt. Äpfel waren zu 70 Prozent, Orangen und Zitronen zu rund 80 Prozent kontaminiert.
Unterm Strich jedoch bewegen sich die Höchstmengen-Überschreitungen im unteren einstelligen Prozentbereich. Somit sei die Qualität von Gemüse und Obst in Deutschland gut, heißt es von amtlicher Seite.
Also doch alles in Ordnung? „Nein, so sehe ich das nicht“, wendet Hermann Kruse, Direktor des Instituts für Toxikologie an der Universität Kiel, ein. „Um die Festlegung der Höchstmengen gibt es immer wieder Streitereien“, erläutert der Toxikologe. „Denn es spielen hierbei auch ökonomische Interessen hinein.“ Für Kruse sind die Werte in einigen Fällen zu hoch angesetzt. Zum Beispiel für jene Stoffe, die sich im Körper anreichern können, wie etwa die chlorhaltigen Verbindungen und einige Phyrethroide. „Außerdem wissen wir gar nicht genau, welcher Mengenanteil der Rückstände in einem Lebensmittel bei den Kontrollen überhaupt analysiert werden kann“, so Kruse weiter.
Tatsächlich haben die amtlichen Lebensmittelkontrolleure hier ein Problem: Auch wenn sie die Pflanzen komplett auseinander nehmen und zerkleinern – sie können mit den üblichen Methoden nicht die ganze Wirklichkeit der Rückstandssituation in den Lebensmitteln wiedergeben.
Pestizide haben nämlich die Eigenart, nicht nur äußerlich auf dem Gemüse oder Obst zu haften, sondern auch ins Innere zu wandern. Dabei gehen sie mit Komponenten der Zellwände derart feste Verbindungen ein, dass sie im Labor nicht gelöst werden können. Sie bleiben folglich verborgen. Nach Auffassung von Heinrich Sandermann, Leiter des Instituts für Biochemische Pflanzenpathologie des GSF-Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg, müssten aber auch diese gebundenen Rückstände berücksichtigt werden.
Kontrolleure messen nicht alles
Mit einem Team von Wissenschaftlern konnte er in neueren Untersuchungen nachweisen, dass wir im Verdauungstrakt drei bis zehn Prozent der gebundenen Pestizidrückstände freisetzen. Bei einem Mittel waren es sogar 65 Prozent! Dabei handelte es sich um das erbgutschädigende und Krebs erregende Pestizid Maleinsäurehydrazid. Es ist in Deutschland inzwischen zwar verboten, gelangt jedoch mit importiertem Gemüse nach wie vor auf unsere Teller.
Diese Ergebnisse hält Sandermann deshalb für bedeutend, da die gebundenen Rückstände oft in weit höherer Menge auftreten als die ungebundenen, die bei den amtlichen Kontrollen erfasst werden. „Wir nehmen mehr chemische Substanzen mit der Nahrung auf, als wir bislang annehmen“, resümiert Sandermann.
Der wirkliche Pestizidrückstand in einem Lebensmittel ist folglich nicht nur das, was die Lebensmittelkontrolleure ermitteln, sondern die Summe aus deren Messungen und den gebundenen Rückständen. Bislang können die offiziellen Messergebnisse grobe Ungenauigkeiten enthalten: Rückstände in einem Lebensmittel, die sich unter dem Grenzwert befinden, könnten unter Berücksichtigung der gebundenen Rückstände den Grenzwert weit überschreiten. Sandermann schätzt, dass etwa zehn Prozent der Pflanzenschutzmittel derartige Probleme machen. Für sie fordert er eine Korrektur der Grenzwerte nach unten und zwar um den Faktor 10 bis 100 – zum Schutz der Verbraucher. Schließlich stehen einige Pestizide nicht nur unter dem Verdacht, Krebs zu fördern oder sogar auszulösen. Sie können im Organismus auch hormonell wirken.
Das betrifft vor allem die chlorhaltigen Pestizide, wie DDT und Aldrin, die zwar weltweit verboten werden sollen, aber auf Grund ihrer Langlebigkeit noch sehr lange in der Umwelt zu finden sein werden. „Aber auch einige in Deutschland zugelassene Mittel können hormonell wirken“, bemängelt der Toxikologe Kruse. Man nimmt an, dass diese Stoffe für die in den letzten Jahrzehnten stattgefundene verringerte Fruchtbarkeit bei Tieren und Menschen mitverantwortlich sind.
Der Umweltmediziner Runow findet regelmäßig im Blut seiner Patienten das berüchtigte DDT und dessen Abbauprodukt DDE sowie andere Gifte. „Das kann durchaus der Grund für die Hormonstörung eines Patienten sein“, erklärt er und weiß, dass hierfür „geringste Spuren ausreichen“.
Geringste Rückstände in der Nahrung genügen auch im Fall Katrin M., um bestimmte Symptome auszulösen. Runow berichtet, dass es bei einem anderen Patienten ausreichte, einen gespritzten Golfrasen zu betreten, um Herzrhythmusstörungen und Erschöpfungszustände auszulösen. „Der Mann musste nach Hause gefahren werden.“
Andere Patienten können sich nur noch mit verschlossenen Fenstern und Luftreinigern retten, wenn im Umfeld ihrer Wohnung Pestizide ausgebracht werden. Die versprühten Mittel landen nämlich nicht nur auf dem Acker. Sie verdunsten zu einem gehörigen Teil und reichern die Luft an – mit fatalen Folgen für viele Menschen. Die auftretenden Symptome bei Chemikalien-Intoleranz reichen von Übelkeit, Schwindel und Tinnitus über Gleichgewichts- und Sehstörungen bis hin zu Muskelkrämpfen.
Nur Einzelwirkungen werden berücksichtigt
Bei der Festlegung der offiziellen Höchstmengen für Rückstände in Lebensmitteln werden auch mögliche Kombinationswirkungen der einzelnen Pestizide nicht berücksichtigt. „Das ist ein großes Manko“, kritisiert Professorin Irene Witte, von der Universität Oldenburg. Es wird lediglich das Risiko, das von dem einzelnen Pflanzenschutzmittel ausgeht, beurteilt. Aber der Verbraucher wird mit einer Vielzahl von Pflanzenschutzmitteln gleichzeitig konfrontiert.
„Wir konnten an menschlichen Zellkulturen zeigen“, erläutert Witte, „dass Gemische toxisch wirken können, obwohl man für die einzelnen Pestizide keine Toxizität in diesen Konzentrationen nachweisen kann.“ Das gilt auch für die erbgutschädigenden Eigenschaften bestimmter Pestizide: „In Kombination wird diese Wirkung verstärkt“, so Witte.
Wie sicher sind unsere Lebensmittel wirklich? Ist BSE nur der Anfang einer gewaltigen Lebensmittelkrise? Jeder von uns verzehrt täglich ein buntes Gemisch aus offiziell zugelassenen und längst verbotenen Agrarchemikalien. Keiner weiß genau, auf welche Weise sich dieser Cocktail im Körper auswirkt. Toxikologe Kruse gesteht ein: „Viele Aspekte sind weitestgehend noch nicht untersucht. Wir wissen einfach zu wenig, um das Ganze toxikologisch richtig beurteilen zu können.“ Möglicherweise kommen uns die billigen Lebensmittel teuer zu stehen.
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