Handlanger oder Hoffnungsträger

Nichtregierungsorganisationen haben ein ausnehmend gutes Image: als Vertreter von Minderheiten, Befürworter alternativer Positionen, Sprachrohr der so genannten Zivilgesellschaft. Dabei werden sie oft gewaltig überschätzt

von KATHARINA KOUFEN

Es gab eine Zeit, da war alles, was vom Staat kam, schlecht. Die Älteren, die schon in die Oberstufe gingen, verteilten vor dem Schulhof Flugblätter („Flugis“) gegen die Volkszählung. Im Fahrradkeller hatte jemand ein fettes A an die Wand gesprayt und jemand anders mit Filzstift ein Gleichheitszeichen und das Wort Anarchie daneben geschrieben. „Wir treten aus aus dem Verein“, sang irgendeine Rockgruppe und meinte den Staat. Wer gut war, hatte nichts mit „dem Staat“ zu tun.

Diese Einstellung haben viele verinnerlicht. Und sind umgekehrt – sozusagen intuitiv – davon überzeugt, dass alles, was nicht vom Staat ist, gut sein muss. Zum Beispiel die NGOs, wie die englische Abkürzung für „Nichtregierungsorganisationen“ lautet. Sie avancierten mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu den großen Hoffnungsträgern der Bewegung – nachdem der Sozialismus als ernst zu nehmendes Gegenmodell des Kapitalismus nicht mehr existierte und es nurmehr um die „möglichst effiziente Verwaltung des Status quo“ zu gehen schien, wie Thomas Gebauer, Geschäftsführer der NGO „medico international“, die Lage in den Neunzigerjahren beschreibt.

Hinzu traten zwei Entwicklungen: Erstens erhielt die wirtschaftliche Globalisierung einen enormen Schub. Zweitens verloren die nationalen Parlamente an Einfluss, weil sie supranationalen Institutionen erlaubten, sich in die Gesetzgebung einzumischen. Zwei wichtige Verträge entstanden: Der Maastricht Vertrag 1992 und das Abkommen über die Schaffung einer Welthandelsorganisation (WTO) 1994.

In Maastricht klopften die EU-Staaten den Weg zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik fest. Ob die Subvention einer Firma mit dreitausend Arbeitsplätzen zulässig ist oder nicht – Wettbewerbskommissar Mario Monti entscheidet darüber. Der hätte den Bundeskanzler damals, im Dezember 1999, ganz schön blamieren können, hätte er dessen „Schröder rettet Holzmann“-Aktion nicht im Nachhinein gebilligt. Was die EU an Macht auf europäischer Ebene an sich gezogen hat, versucht auf globaler Ebene die WTO. Ob die Amerikaner ihren Genmais als solchen kennzeichnen müssen, bevor sie ihn nach Deutschland exportieren, legt nicht etwa Verbraucherministerin Renate Künast fest, sondern ein Gremium der WTO.

Dieses Vakuum zwischen internationalen Organisationen und der „Zivilgesellschaft“, wie das Fußvolk im Soziologenfachdeutsch heißt, sollten nun die NGOs füllen, vor allem die „politischen“ mit bestimmten gesellschaftliche Zielen. Nicht also die rein technischen NGOs wie das Rote Kreuz, das bei einer Hungersnot in die Krisenregion fliegt und Mehl verteilt, sondern Umweltverbände wie Greenpeace oder Menschenrechtsgruppen wie amnestie international.

Wenn es schon keine gewählte Weltregierung gibt, die dem freien Waren- und Kapitalhandel soziale Standards vorschreibt, dann soll es wenigstens NGOs geben, die diesen Missstand anmahnen, lautet ein oft gehörtes Argument. NGOs, so wird dabei vorausgesetzt, vertreten meist Minderheiten, die sonst kein Gehör finden. Dieses uneigennützige Engagement scheint NGOs in den Augen ihrer Befürworter zu legitimieren.

Vergessen ist dann, dass die Motive noch so edel sein können – Repräsentanten werden in den modernen Demokratien nun mal durch Wahl bestimmt. Kein Bundestagsabgeordneter kann sich mit dem Hinweis, er stehe für zu kurz gekommene Interessen ein, selbst zum Volksvertreter ernennen. Gebauer spricht von „feudaler Gönnerhaftigkeit“, mit der NGOs sich bestimmter Probleme annehmen – oder auch nicht.

Wenn Politikwissenschaftler bei vielen NGOs ein Legitimationsdefizit diagnostizieren, meinen sie dasselbe: Die Kluft zwischen den Interessen der NGO und derer, die sie zu vertreten vorgeben. Die Erkenntnis mancher Hilfsorganisationen etwa, dass medienwirksame Nothilfeaktionen mehr Spendengelder locker machen als die allmähliche Entwicklung hin zu einer soliden Selbstversorgung, führt manchmal zu einer Entwicklungspolitik, die mit den Bedürfnissen der Empfänger nichts mehr zu tun hat.

In manchen Ländern fungieren NGOs ohnehin vor allem als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Einheimische. Kein Wunder, verdient man zum Beispiel in Uruguay als Angestellter eines von der deutschen Böll-Stiftung geförderten Projekts mehr als ein Universitätsprofessor. Ehrenamtlich viele Stunden einem hehren Ziel zu opfern – das ist in solchen Ländern nicht drin: Normal Sterbliche verbringen vierzehn Stunden am Tag damit, Unterricht zu geben, Taxi zu fahren und Zeitungen zu verkaufen. Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe eine NGO! Clevere Arbeitsuchende wissen genau, was ausländische Geldgeber erwarten – den Tropenwald schützen, Solaranlagen bauen und Frauen fördern, am besten alles gleichzeitig und natürlich nachhaltig, partizipativ, und an Armutsbekämpfung orientiert sein.

Oft ist es, gerade in den Entwicklungsländern, nicht einmal die NGO selbst, die den Anspruch erhebt, im Namen eines „allgemeinen Interesses“ zu handeln – er wird ihr von außen zugetragen. Für Regierungen und internationale Organisationen gehört es mittlerweile zum guten Ton, „die Zivilgesellschaft“, vertreten von NGOs, zu konsultieren – der „Partizipation“ wegen. In vielen Ländern existieren aber kaum NGOs, etwa weil jahrelange Diktaturen solche Basisimpulse abgetötet haben. So ist der Internationale Währungsfonds zum Beispiel froh, wenn er NGOs zusammentrommeln kann, die ihm ein Programm zur Armutsbekämpfung erarbeiten – oder es zumindest absegnen. Denn nur dann darf der IWF dem Land einen Kredit gewähren. Mittlerweile sind auch Konzerne auf den Trichter gekommen, wie sie ihr schlechtes Image rein waschen können: Sie lassen Pseudo-NGOs gründen und finanzieren, die ihnen Umweltbewusstsein oder Arbeitnehmerschutz bescheinigen sollen.

Hier stellt sich die Frage nach der Finanzierung: Kann eine NGO unabhängig sein, wenn sie Gelder von Unternehmen oder vom Staat erhält? Geht es um Firmengelder, lautet die Antwort: nein. Bei staatlicher Finanzierung schon eher, zumindest dort, wo Demokratie herrscht. Hierzulande finanzieren sich die meisten größeren Verbände zumindest teilweise aus irgendeinem Topf, sei es aus Brüssel oder Berlin. Warum auch nicht? Gerade die in den Hauptstädten ansässigen Lobbyverbände liefern Informationen, an die der träge Regierungsapparat nicht so schnell herankommt – quasi als Gegenleistung.

Nicht zuletzt profitiert die öffentliche Hand von den NGOs, wenn sie als billige Dienstleister fungieren. Unter Entwicklungshelfern etwa ist es bekannt, dass die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) der Bundesregierung einen enormen finanziellen Aufwand betreibt, bevor überhaupt ein Projekt gestartet werden kann. Ein leitender GTZ-Angestellter im Ausland verdient rund zwanzigtausend Mark im Monat. „Die müssen erst mal eine Reihenhaussiedlung mit Swimmingpool für ihre Mitarbeiter bauen, bevor sie sich der Armutsbekämpfung widmen können“, spottete ein Entwicklungshelfer einmal auf einer GTZ-Feier in Quito. Da sind NGOs effizienter. Mittlerweile wird ein großer Teil der staatlichen Entwicklungshilfe über sie abgewickelt – was enorm Kosten spart.

Zu solchen Handlangern des Kapitalismus würden sich die radikaleren unter den NGOs nie degradieren lassen. Sie setzen auf Konfrontation statt auf Einflussnahme durch Kooperation. Das kann zu Konflikten zwischen verschiedenen NGOs führen; im Idealfall aber ergänzen sich beide Taktiken. Der Politologe, Autor und NGO-Lobbyist Peter Wahl spricht von einem „dynamischen Dreieck“ zwischen staatlicher Seite, Aktivisten, die durch Demonstrationen für Druck sorgen, und Lobbyisten.

Die Proteste gegen das Welthandelstreffen 1999 in Seattle waren nur deshalb so erfolgreich, weil die direkten Aktionen draußen auf der Straße mit professioneller Kritik unterfüttert wurden. Mitarbeiter der Verbände World Economy, Ecology & Development Weed oder Germanwatch etwa hatten sich monatelang auf die Tagung vorbereitet und mit Argumenten gewappnet.

Auf den Konferenzen von IWF und Weltbank ist es mittlerweile Usus, dass die NGOs zu Gesprächen mit den Chefs der beiden Finanzgrößen geladen werden. Der konstruktiven Kritik der Alternativexperten drinnen wird dann durch die lautstarken Proteste Nachdruck verliehen. Der G-8-Gipfel in Genua dagegen hat gezeigt, dass umgekehrt auch die zur Zusammenarbeit bereiten NGOs in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn auf der Straße ein paar Chaoten durchdrehen.

Übrigens hat sich in Genua „der Staat“ doch als der Leviathan erwiesen, als den ihn in den Achtzigerjahren viele sahen.

KATHARINA KOUFEN, 30, ist taz-Redakteurin im Ressort Wirtschaft & Umwelt