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Romantik aus Plexiglas

Der Sonnenuntergang auf den Azoren und der Sonnenaufgang in Australien: Zwei Ausstellungen unter dem Titel „Until Now“ im Künstlerhaus Bethanien und in der Galerie Barbara Thumm zeigen Arbeiten von Mariele Neudecker

Wieso Wasserfall? Von dem ist auf den ersten Blick des so betitelten Loops nichts zu sehen. Aus zwei Monitoren schaut jeweils ein Auge heraus, das mal blinzelt und etwas zu fixieren scheint. Einen Wasserfall, wie man erst nach etlichen Sekunden erkennt, der sich winzig klein in den Pupillen widerspiegelt. Mariele Neudecker schlägt der Wahrnehmung gern ein Schnippchen.

Zwei Ausstellungen unter dem Titel „Until Now“ im Künstlerhaus Bethanien und in der Galerie Barbara Thumm bieten einen umfassenden Einblick in das Schaffen der in Bristol lebenden Düsseldorferin, die am renommierten Londoner Goldsmiths College Kunst studierte. Zuvor absolvierte sie eine Ausbildung als Architekturmodellbauerin.

Das ist vor allem ihren Skulpturen anzusehen. Mitten im kathedralengleichen Ausstellungsraum des Künstlerhauses tront ihre Arbeit „Far, Into The Day“ auf einem etwa zwei Meter großem Sockel einem Altar gleich. Davor stehend ist nur die Hälfte zu sehen, Berge, Tannen, schneebedeckte Gipfel. Erst von der Empore blickend, ist aus der Fernsicht der ganze romantische Inhalt aus Holz, Plexi- und Fieberglas einzusehen und ein Kreuz auf einem Gipfel zu entdecken. Wahrscheinlich hat Mariele Neudecker eine kitschige Postkarte nachgebaut. Für die Installation „It is a good thing to loose control sometimes“ hat die 36-Jährige in einem Glastank eine täuschend echt wirkende Gebirgslandschaft hinein gebaut, die im mystischen Nebelmeer zu verschwinden scheint. Das wattige Gewaber scheint echt und zum Greifen, denn im mit Salzwasser gefüllten Tank schwebt Acrylbinder ein paar Zentimeter breit über den unechten Boden. Caspar David Friedrich musste sich seinen Nebel noch malen, hier wabert er wie von selbst in einer Unterwasserwelt, die vorgibt, eine Bergwelt abzubilden.

Ein Teil der Installation, eine geschwungene Bergkette, dürfte als Ausgangsmaterial für die Doppelprojektion „It was always like this“ gedient haben. Jetzt wird das Spiel um Realität und Fiktion auf die Spitze getrieben. Denn über das gefilmte Bergmodell weht ein hörbarer Wind, Wolken ziehen vorüber, die am Computer entstanden. In der Mathematik ergibt minus mal minus plus. Wird hier Unechtes mit Unechtem gemixt zu etwas Echtem?

Die Kunst von Mariele Neudecker macht vieles sichtbar, was dem menschlichen Auge sonst verborgen bleibt. Keiner kann sich zweiteilen und zugleich Sonnenaufgang und Sonnenuntergang beobachten. Deshalb hängen im Künstlerhaus Bethanien zwei Großdias in Leuchtkästen nebeneinander, die beides zeitgleich zeigen. In der Galerie Thumm tauchen die beiden Aufnahmen als bewegte Bilder wieder auf, denn Neudecker transformiert das klassische Tafelbild der Romantik in zeitgenössische Formulierungen. Die Videoarbeit „Another Day“ zeigt in zwei Projektionen einen Sonnenauf- und einen Sonnenuntergang, gefilmt an gegenüberliegenden Punkten der Erde. Der Betrachter sieht so simultan das blasse Blau des Sonnenuntergangs auf den Azoren und das leuchtende Gelbrot des Sonnenaufgangs in Australien.

Trotz häufig verwendeter klassischer Sujets romantischer Gemälde fokussiert Neudecker die Schwierigkeiten heutiger Wahrnehmungsvorgänge. Dabei kommt es in ihren Installationen wie Videos wortwörtlich zu Verdichtungen, Luft und Atmosphäre werden greifbar, materialisieren sich. Etwa durch die schwindelnde Perspektive im Video „The Land of the Dead“, für das die Künstlerin eine Ballonfahrt in Ägypten filmte. Langsam steigt der Ballon immer höher, kärgliche Hütten, klapprige Esel, ein altes Lastauto und nackter Wüstensand sind gleich doppelt zu sehen, weil die Bilder zeitgleich und exakt übereinander auf Boden und Decke flimmern. Ganz nah dran versinkt man so in den Film, dass man beinahe mit in die Höhe steigt, bis einem wirklich schwindlig wird. Eine perfekte Illusion von Realität.

ANDREAS HERGETH

Bis 4. November, Mi-So 14-19 Uhr, Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz, Kreuzberg und Di-Fr 13-19, Sa 13-18 Uhr, Galerie Barbara Thumm, Dircksenstraße 41, Mitte

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