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Alles rein in jeden Takt

Die Ausbeutung des Menschen erreicht eine neue Qualität: Wie gut und beruhigend es sein kann, wenn man sich von Schorsch Kamerun und dem neuen Album der Goldenen Zitronen „Fahrstuhl zum Schafott“ durch den Tag begleiten lässt. Ein Report

von SUSANNE MESSMER

Es ist schön kuschelig im Bett. Aber plötzlich der Morgenappell. „Los jetzt, los jetzt, steh auf“, schreit mir Schorsch Kamerun ins Ohr, als ich den Kopfhörer meines Walkmans aufsetzte, den ich mir heute vorgenommen habe, nicht mehr abzuziehen. Es läuft die Kassette mit dem neuen Album der Goldenen Zitronen „Schaffott zum Fahrstuhl“. Ich kenne die Goldenen Zitronen seit fünfzehn Jahren, länger als jeden meiner Freunde. Mir kommt es vor, als wäre Schorsch Kamerun mein ältester Freund. Von dem lass ich mich gern mal einen Tag lang begleiten.

Ich strecke den Zeh raus, draußen ist’s feindlich, ich muss aufstehen, obwohl ich nicht aufstehen will, mich anziehen, obwohl ich mich nicht anziehen will, in der Socke ist ein Loch, mit dem Kaffeewasser verbrühe ich mich zum fünftausendsten Mal. „Unterschiedlich ist das Gemache am Morgen, bei Frauen und Männern“, kommentiert Schorsch mein Tun. Stimmt, denke ich, es ist auch noch gar nicht so lang her, dass meine Mitbewohnerin ausgezogen ist. Eigentlich wohnt es sich allein viel angenehmer, keine Kompromisse mehr. Nur die Miete ist jetzt teurer. „Das war der neueste Lebensabschnitt von mir. Zum Glück ist er jetzt vorbei.“ Habe ich das jetzt gesagt oder Schorsch?

Raus aus dem Haus will ich mich aufs Fahrrad schwingen, doch es hat einen Platten. Schorsch ruft mir zu: „Es gibt nichts, was man nicht reparieren kann“, und: „Wechsel deine Mutter“. Ich stelle fest: Das Licht haben sie mir auch abgeschraubt. Ich nehme den Bus, es geht vorbei an einer neuen Werbefläche. Drei Damen grinsen mich vom Plakat herunter an. Ihr Lippenstift ist verschmiert. Es sind die Chicks on Speed, diese Mädchenband aus München, die jetzt bei mir um die Ecke wohnen sollen, meinte gestern im Hausflur meine gut informierte Nachbarin zu mir. Die Chicks rufen mir zu: „Wir sind Topmodels aus dem Tierzelt.“ Ach nein, es war ja gar nicht das Plakat, es waren die echten Chicks On Speed, die auf dem neuen Album der Goldenen Zitronen auch was zu singen haben. Ich steige aus, vorbei am neuen Büro für Webdesign, Schorsch macht sich lustig: „No way greifbar, immer erreichbar – der Kampf geht weiter, Börsengang noch in diesem Jahr – wir sind Netzpiloten.“ Ich konnte dieses New-Economy-Pack auch noch nie leiden. Angekommen in der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt dieser Stadt, wo mich ein Schlafbedürfnis überkommt, wenn ich den Fahrstuhl betrete. „Mach Platz“, ruft mir Kamerun zu, als ich merke, dass ich einem im Weg bin, als er einsteigen will. Im Büro stelle ich fest, ich bin zum Glück wieder allein heute, mein Kollege ist wieder krank. „Mit siebzehn in die Lehre, mit siebenunddreißig in die Therapie“, kommentiert Schorsch dessen Werdegang, von dem ich bislang gar nichts wusste.

Er ist öfter krank als alle anderen. Irgendwas tut ihm immer weh, die Ärzte finden es nicht raus. Neuerdings tippt er auf Weichteilrheuma, sehnt sich nach einer Diagnose, damit er endlich hier aufhören kann. Wenn er da ist, macht er eh nur die Pferde scheu, denn eigentlich sind unsere Jobs seit Jahren überflüssig geworden und hätten längst wegrationalisiert werden können. Ich sitze meistens nur rum, im Winter morgens auch im Dunkeln, der Sender muss sparen, auch am Strom. Ich hoffe, dass auch heute wieder keiner was will, und warte auf die Mittagspause. Auf dem Weg in die Kantine sehe ich eine alte Kollegin aus meinem alten Büro. Ich starre verkrampft auf meine Schuhspitzen, sie grüßt mich auch nicht, muss sie auch nicht, denn sie hat jetzt einen viel besser bezahlten und anspruchsvolleren Job als ich. „Podium? Leider schon vergeben. Aber wir hätten da noch ‚Tanzneger‘ oder ‚Imbissverkäufer‘“, schreit mich Schorsch hysterisch an. Recht hat er. Wie immer. Endlich wird es Abend, ich fahre nach Hause. Dort rasiere ich mich, mache mich fertig für den Abend, ich muss noch mal raus. Wieder auf der Straße nehme ich ein Taxi. „Dass ich immer nur von euch weg will, macht mein Leben so schnell“, höre ich Schorsch sagen. Endlich lande ich in dem Laden, in dem ich immer lande und trotzdem nie jemanden kenne. Schorsch singt: „Wackel alles rein in jeden Takt.“ Ich wackel mal los, verliere aber bald die Lust und mache mich wieder auf den Heimweg. Zu Hause guck ich noch schnell die „Tagesthemen“. „Flimmern, flimmern, irgendwann nach Sendeschluss“, ruft Schorsch. Uli Wickert berichtet derweil von der neuen Ausländerfeindlichkeit nach dem Terroranschlag am 11. September. Das lässt mich kalt und auch Schorsch Kamerun singt: „Wat soll’n die Nazis raus aus Deutschland . . . hier gehör’n se doch hin.“

Wir sind uns einig wie schon den ganzen Tag. Joschka Fischer sagt irgendwas über Afghanistan. Schorsch singt: „Junge, wer mit zwanzig kein Anarchist gewesen ist, aus dem wird nie ein kühner Demokrat.“ Ich bin müde, so unendlich müde. Muss unbedingt ins Bett. Nehme den Walkman ab. Danke, Schorsch, du hast mir durch den Tag geholfen.

Die Goldenen Zitronen spielen heute um 21 Uhr im Muvuca im Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, Kreuzberg

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