: Harte Nächte im Sattel
Am Donnerstag beginnt in Dortmund die Saison der Sechstagerennen. Rund um das schnelle Holzoval geht es nach wie vor um Show, Unterhaltung und Geld – und ein bisschen auch um Radsport
von SEBASTIAN MOLL
„Ist es ein Unfall, wenn der Holländer Vermeer in der zweiten Nacht in steiler Parabel vom Rad saust, mitten ins Publikum? Nein: out. Ändert es etwas, dass Tietz liegen bleibt? Nein, es ändert nichts, wenn die Roulettekugel aus dem Spiel schnellt. Wenn einer den Rekord bricht, so wirst du Beifall brüllen, wenn einer den Hals bricht – was geht’s dich an? Das Rennen dauert fort. Die lebenden Roulettebälle rollen.“ So sah Egon Erwin Kisch, der legendäre Reporter und Chronist seiner Zeit, das zehnte Sechstagerennen im Berliner Sportpalast 1919: Als zynisches Spektakel, in dem die Fahrer nichts als Spielbälle einer außer Kontrolle geratenen Amüsierwut geworden waren.
Wenn am Donnerstag die Sechstagesaison in Dortmund beginnt, werden wieder Massen in die Hallen strömen. Und nach wie vor geht es ihnen nicht darum, sich von sportlichen Wettbewerben mitreißen zu lassen, auch wenn sich die Veranstalter vehement dagegen wehren, dass es sich bei den Rennen um reines Spektakel handelt, dass die Discos und Stripshows unter den Rängen wichtiger sind als das Geschehen auf dem Holzoval und dass der Ausgang der Rennen von vornherein feststehen soll. „Höchstens 50 Prozent der Attraktion“, glaubt Ernst Clausmeyer, Veranstalter des Dortmunder Rennens, „macht das Drumherum aus.“ „Ein Drittel der Leute“, glaubt er jedoch, „kommen nur wegen dem Sport.“ Was immerhin bedeutet, dass zwei Drittel aus anderen Gründen die Hallen füllen – und die Taschen der Veranstalter.
Auch am Status der Fahrer als Lohnarbeiter, die unter nach gewerkschaftlichen Maßstäben inakzeptablen Bedingungen in frühindustrieller Manier ihren Lebensunterhalt verdienen, hat sich seit Kischs Zeiten nicht viel verändert. „Nach jedem Abend“, erzählt Jens Lehmann, Bahn-Olympiasieger und Sechstagefahrer, „denke ich, du kannst am nächsten Tag nicht wieder aufs Rad.“ Die „großen Jagden“ bis morgens um zwei, bei denen in nikotinschwangerer Luft der Puls auf 200 und das Rad auf 55 km/h beschleunigt wird, verlangen den Akteuren das Letzte ab. Doch am nächsten Tag muss es dann doch irgendwie weitergehen, den ganzen Winter lang: Lehmann etwa fährt von November bis Februar alle sechs deutschen Sechstagerennen sowie mindestens zwei im Ausland. Rund 50 Tage und Nächte im Sattel sind das.
Trotz seines Olympiasieges kann es sich Lehmann nicht leisten, das Sechstagefahren bleiben zu lassen. Zwar hat er seit Sydney einen Vertrag als Straßenprofi, um seine Zukunft abzusichern, hat der 33-Jährige die zusätzlichen Einnahmen im Winter dennoch weiter nötig. Dabei gehört er mit seinem Prestige noch zu den Privilegierten unter den Sechstageprofis. Stefan Steinweg etwa, immerhin auch Weltmeister auf der Bahn, beziffert die Einnahmen aus dem Sechstagerennen auf „mindestens 50 Prozent meines Jahreseinkommens“. Ohne Vertrag bei einer Straßenmannschaft ist Steinweg selbstständiger Unternehmer in Sachen Bahnradsport. Neben den Sechstagerennen lebt er von seinen Privatsponsoren.
Den Veranstaltern geht esprächtig, auch wenn man in den vergangenen zwei Jahren einen Knick in der generell positiven Tendenz erlebt habe. „Das lag aber mehr an der gesamtwirtschaftlichen Situation“, so Arno Hartung von den Münchner Sixdays, tendenziell aber gehe es seit den 70er-Jahren bergauf. Der Radsportboom, der durch Jan Ullrichs Tour-de-France-Sieg ausgelöst wurde, tat sein Übriges, und seitdem Erik Zabel im letzten Jahr wieder in Dortmund und München an den Start gehe, brauche man sich schon gar keine Sorgen mehr zu machen.
80.000 bis 90.000 Menschen füllen in Dortmund, München, Stuttgart und Berlin die Hallen. Bis zu 60 Mark bezahlen die Zuschauer für eine Nacht. „Die Eintrittsgelder sind nach wie vor unsere Haupteinnahmequelle“, sagt der Münchner Hartung. Die rund zwei Millionen Mark Umsatz in München und drei bis vier Millionen in Dortmund werden aufgefüllt von Sponsoren sowie durch Pacht und Umsatzbeteiligung der Verkaufsstände rund um die Bahn.
Die Sponsoringsysteme sind indes höchst unterschiedlich. In Dortmund etwa macht der Veranstalter die Verträge mit den Fahrern, der Sponsor finanziert die Veranstaltung und kann sich dabei nicht aussuchen, welche Fahrer auf ihren Trikots für ihn Werbung fahren. In München hingegen kann sich ein Sponsor direkt seinen Fahrer kaufen. Die Franziskaner-Brauerei hat in diesem Jahr beispielsweise Erik Zabel zusammen mit seinem Partner Silvio Martinello bestellt. Wieviel das kostet, darüber schweigt des Brauers Höflichkeit. Nur gut, dass es Gerüchte gibt. Die sprechen von 100.000 Mark – pro Nacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen