piwik no script img

Leise Überraschungen

Ein bisschen staunend und ein bisschen zurückgelehnt: In Hannes Stöhrs Film „Berlin is in Germany“ spielt Jörg Schüttauf einen DDR-Bürger, der zehn Jahre nach dem Fall der Mauer aus dem Gefängnis entlassen wird – und als deutsch-deutscher Simplicissimus durch eine fremde Welt läuft

von THOMAS WINKLER

Jörg Schüttauf ist Schauspieler. Diplomierter Schauspieler gar. Manchmal aber kommt ein Kinobesucher oder ein Fernsehzuschauer auf ihn zu und entschuldigt sich. Sagt: „Tut mir Leid, Herr Schüttauf, seien sie nicht böse, aber Sie waren da drin ein ganz schlechter Schauspieler, denn sie haben fast gar nicht gespielt.“ „Das“, sagt Jörg Schüttauf, „das ist doch das Schönste, was einem passieren kann.“ Es passiert ihm öfters in letzter Zeit. Seit er vom Regisseur und Autor Hannes Stöhr „ein Geschenk“ bekam und Martin Schulz spielen durfte. Den Martin Schulz, der noch als DDR-Bürger in den Knast kam und elf Jahre später aus der Justizvollzugsanstalt Brandenburg in die BRD entlassen wird. Martin Schulz, der mal leicht verwundert, mal leicht amüsiert durchs neue Berlin läuft. Martin Schulz, der versucht, seine Exfrau, seinen Sohn und ein neues Leben zu finden. Martin Schulz, der entdecken muss, dass im Westen nichts ist, wie es scheint, dass russische Stripperinnen sich als österreichische Studentinnen entpuppen und Berliner Taxen von ehemaligen kubanischen Vertragsarbeitern gesteuert werden. Den Martin Schulz aus „Berlin is in Germany“.

Wie schwer es doch sein kann, man selbst zu sein. Einfacher ist es, sich selbst zu spielen. Sagt Schüttauf, der Schauspieler, über Schulz, die Filmfigur. Schüttauf wurde in Chemnitz geboren, als das noch Karl-Marx-Stadt hieß, und die Geschichte von Schulz holte ihm die eigene Vergangenheit „noch mal hoch“. Er weiß, wie es ist, über die Republikflucht nachzudenken, „Schiss zu haben“, sich nicht entscheiden zu können und dann doch zu bleiben. Er weiß, wie es ist, im Westen anzukommen, sich zu wundern, „dass vieles eigentlich doch gleich aussieht, dass die Straßen auch Kurven haben“. Er weiß, wie es ist, „wenn man sein Kind sehen will und darf es nicht“. Mit seiner Freundin und seiner zweiten Tochter wohnt der mittlerweile 39-jährige Schüttauf nun in der Nähe von Potsdam. Allzu oft kommt er nicht nach Berlin, den überraschten Blick auf die neue Stadt musste aber auch er erst wieder finden. Den Blick, mit dem Martin Schulz aus dem Fenster der S-Bahn blickt, durch das man ganz weit hinten das neue Bundeskanzleramt sehen kann und auch den Potsdamer Platz, auf den Schüttauf beim Interview runtergucken kann, wenn er aus der Cafeteria der DffB nach draußen blickt.

„Was macht man in zehn Sekunden, um zu spielen, wie jemand die fremde Welt aufnimmt“, fragt er selbst. Gar nicht spielen. „Man sitzt da im Zug und guckt, mehr nicht.“ Der Zuschauer, sagt Schüttauf, interpretiere schon genug. Genau deswegen funktioniert der Film wohl so gut – weil er nachvollziehbare Alltagsgeschichten ins Bild setzt, andererseits aber Freiräume lässt, die der Zuschauer mit seiner eigenen Geschichte füllt.

Martin Schulz ist so eine Art Simplicissimus, der durch eine Welt geht, die Stöhr gerade so verschoben inszeniert hat, dass auch das Publikum einen neuen Blickwinkel findet. Den Stellvertreter Schulz müsse man deshalb „ein bisschen staunend und ein bisschen zurückgelehnt“ spielen, sagt Schüttauf. Oder eben kaum bis gar nicht: „Ich habe vergessen, dass ich den spiele, wenn ich den Film sehe.“ Schüttauf schafft es sogar, Schulz aus alten DDR-Mark-Scheinen Papierflieger basteln zu lassen und das mit einer feinen Melancholie auszustatten, anstatt den an sich ja hoch symbolträchtigen Akt im Kitsch zu versenken.

Es wird nicht viel gesprochen in „Berlin is in Germany“, und wenn, dann nur selten über das, was besprochen werden müsste. So trocken erzählt und voller Understatement erinnert der erste lange Spielfilm von Stöhr an Kaurismäkis beste Momente. Wenn Schulz vor einem Fahrscheinautomaten steht und mit unbewegtem Gesicht leise sich selbst fragt, was eine Azubi-Karte sei, erzählt das mitunter mehr über dieses Land ein Jahrzehnt später als mancher Dokumentarfilm. Deswegen bewegt Martin Schulz die Menschen und deswegen gewann der Film bei der Berlinale den Publikumspreis des Panoramas. „Mir gefällt der auch gut, das ist ein Typ“, sagt Schüttauf über Schulz. Allerdings: So sicher war er sich da nicht von Anfang an. Ursprünglich hatte Schüttauf den Kleinigkeiten, den winzigen Szenen und Details, die so eine Geschichte glaubwürdig machen, „gar nicht vertraut“. Es ging zu leicht, den Schulz zu spielen, da hatte er gezweifelt, „ob das ausreichend war“.

Schüttauf ist Skeptiker. Einer, der oft nicht an das Projekt glaubte, an dem er arbeitete, der mit Regisseuren „nicht klarkam“, mit grummeliger Wut spielte und dachte, so kann das ja nichts werden, und es wurde doch etwas und Schüttauf war überrascht, dass „manche Sachen ganz anständig“ waren. Vielleicht lag es daran, dass er oft spielte, was er ganz und gar nicht nicht war: einen schizoiden Dichter in „Lenz“ am Berliner Maxim Gorki Theater, den ehelichen Schlappschwanz George in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Vier Jahre lang den leicht cholerischen „Fahnder“ und immer wieder Verbrecher oder zumindest Verdächtige in Fernsehkrimis. Er spielte gut, er hatte es gelernt in Leipzig an der Theaterschule, aber er spielte.

Seine vielleicht größte schauspielerische Leistung verschwendete er an eine Folge von „Polizeiruf 110“. Er gab einen Psychopathen, der Kinder übers Telefon in den Tod treibt. Da habe er, sagt er fast entschuldigend, „ein bisschen versucht, Kinski nachzumachen“, ist aber heute noch stolz, dass er allein gegen alle Widerstände die Rolle vom eindimensionalen Schreckgespenst, wie sie im Drehbuch angelegt war, zur hintergründigen Psychostudie ausbauen konnte. „Sonst“, sagt er leicht ironisch, „spielt man, was kommt.“ Deshalb gerade einen Kommissar, obwohl er sich nach dem „Fahnder“ geschworen hatte, nie wieder einen Kriminellenjäger in Serie mimen zu wollen. Aber: Die beiden jährlichen Einsätze sollen die finanzielle Sicherheit bieten, um „sich leisten zu können, einen schönen Film zu machen“. So einen wie „Berlin is in Germany“.

„Berlin is in Germany“. Buch & Regie: Hannes Stöhr. Mit Jörg Schüttauf, Julia Jäger, Tom Jahn, Valentin Platareanu u. a. Deutschland 2000, 91 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen