robin alexander über Schicksal: Die Barbaren aus dem Osten
Der Ossi ist unverständlich, seltsam, nicht begreifbar. Eben anders als der Wessi. Oder nicht? Eine Besichtigung
Vom Fremden soll heute die Rede sein. Vom Unverständlichen, Seltsamen, nicht Begreifbaren, Irrationalen. Kurz: vom Ossi. Den Ossi als solchen gibt es seit 1990. Er gehört der Gattung „Deutsche“ an. Niemand findet den Ossi rätselhafter als seine Gattungsgenossen aus dem Westen, die mit ihm zwar Aussehen, Sprache, Kultur und Geschichte gemein haben, aber sonst selbstverständlich gar nichts. Ossis pflegen ihr Ossitum auszudrücken, indem sie in großer Zahl PDS wählen, zuletzt beinahe 50 Prozent in Ostberlin. Die PDS ist ein Verein, gegen den im Prinzip die Mauer, Bautzen, Spitzel und Schergen sprechen, konkret aber vor allem die gefährliche politische Ansicht, es sei falsch, Afghanistan zu bombardieren.
Nähern wir uns der Gattung, indem wir uns einzelne Exemplare ansehen. Eine ganz persönliche Barbarenbesichtigung:
Exemplar 1: Uli Z. geboren 1975. Bis 1989 unauffälliger Klassenkamerad tief im Westen und Torwart unserer Fußballmannschaft, begrüßte er die Fernsehbilder von Demonstrationen und schwarz-rot-goldenen Fahnen nicht wie alle anderen mit Kopfschütteln, sondern mit heller Freude. Es stellte sich heraus: Uli war in Halle aufgewachsen. Im Zuge der Biermann-Affäre war Ulis Vater aus der DDR geflogen, weil er katholischer Pfarrer war – und aus dem Priesteramt, weil er Ulis Vater war. Die Kommunisten setzten ihn ohne alles vor die Mauer, die Katholiken besorgten ihm immerhin eine Sozialarbeiterstelle in einem Bochumer Krankenhaus. Uli identifizierte sich trotzdem eher mit der eingestürzten DDR – nach dem Fall der Mauer, wohlgemerkt. Er schleppte uns auf Radtouren von der sächsischen Schweiz bis zur Ostsee, fuhr später im Ruhrgebiet mit einem Wartburg herum und ließ sich „blöder Ossi“ schimpfen, wenn er eine Flanke unterlief.
Wir wollen uns merken: Ossis finden die kaputte DDR wesentlich attraktiver als die intakte. Ob Uli heute PDS wählt? Keine Ahnung. Sein Vater bestimmt nicht.
Exemplar 2: Sonja H. geboren 1965. 1989 Einserabschluss an der Karl-Marx-Universität Leipzig in Philosophie, also Marxismus-Leninismus, Spezialgebiet: Atheismus. Sonja hatte schon als FDJlerin sehr intimen Westkontakt – zu meinem Freund Karlo, der auf DKP-Bildungsreisen den Sozialismus kennen lernte. Karlo, später Angestellter der Migrantenberatung der evangelischen Kirche, besorgt auch Sonja einen Job. Sie zieht nach Westen und wird die erste Abonnentin des Neuen Deutschlands in Castrop-Rauxel. Das Büro bringt sie rasch auf Vordermann. 1995 lässt sich die diplomierte Atheistin von ihrem Arbeitgeber taufen. Karlo hält es nicht aus und kündigt. Wir wollen uns merken: Ossis sind loyal. Ob Katja heute PDS wählt? So sicher wie das Amen in der Kirche.
Exemplar 3: Herrmann J. geboren 1936. Ökonom. SEDler. Wurde in der DDR nicht Professor mangels „Zuverlässigkeit“. Aus dem gleichen Grund wird er nach der Wende PDS-Chef in einer sächsischen Großstadt. Nach der Wende aus der Uni geworfen, klagt er sich wieder rein. J. weiß also, was ein Rechtsstaat ist. Beim Bier erzählt er, DDR-Erfahrungen sind Erfahrungen im Niederkämpfen von Zweifeln:
„Der 17. Juni 53?“ – „Schon demokratischer Aufstand, noch faschistischer Putsch, dachten wir mit Brecht.“ – „Workuta 53? Ungarn und Polen 56? Prag 68?“ – „Einsicht in die Notwendigkeit, sagten wir mit Engels.“
Es braucht zehn Bier, bis der hagere Materialist beichtet, wann er den Glauben verlor: „Anfang der 80er entdeckte Günter Mittag die EDV. Alle Betriebe sollten vernetzt werden und jede verbrauchte Schraube im Computer vermerkt werden. Und täglich, nach Feierabend, wollte der Genosse Minister auf Knopfdruck den exakten Stand der Volkswirtschaft bis zur fünften Stelle hinterm Komma haben. Ein Wahnsinn.“
Wir wollen uns merken: Ossis wissen, warum die DDR untergegangen ist. Ob J. heute die PDS wählt? Er ist die PDS!
Exemplar 4 . . . kenne ich am besten. Exemplar 4 macht leider Zicken: „Ich bin nicht repräsentativ.“ Obwohl sie kein Westfernsehen gucken durfte, obwohl sie ihr Stofftier mit Pionierpost nach Nicaragua schickte, obwohl sie zum 40. DDR-Geburtstag im Blauhemd winkend durch Ostberlin lief, obwohl sie sogar am Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution geboren ist, will sie für uns nicht mehr das Ossi-Exemplar geben! Basta. Sie verweist darauf, dass sie mehr westeuropäische Sprachen spricht als ich und mehr amerikanische Bücher kennt. Und da hat sie auch Recht.
Wir wollen uns merken: Nicht alle Ossis mögen sich noch hergeben für den Arbeiter-und-Bauernstaat. Ob sie PDS wählt? Ihr Vater wählt jedenfalls „Pro DM“.
Das Ergebnis dieser kleinen Untersuchung liegt auf der Hand: Längst bevölkern Ossis mein Leben. Schert man sie über den Kamm ihrer Herkunft, sind sie nostalgisch, loyal und pragmatisch. Und die Weiber zunehmend renitent. Klingt irgendwie deutsch. Klingt auf jeden Fall anstrengend. Und ich hätte mich vor einem kleinen Anwalt als Kultursenator fürchten sollen?
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