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Das Gesicht der Simulation

Das Tragische und das Utopische: Michael Jackson lebt unsere Fantasmen, Träume wie Albträume. Mit dem neuen Album „Invincible“ ist er nun endgültig in seine postmoderne Phase eingetreten

von TOBIAS RAPP

Drei Jahre lang wurde es immer wieder angekündigt, verschoben, Gerüchte wurden gestreut, Produzenten engagiert und wieder gefeuert. Nun ist es da: Seit Montag steht „Invincible“ in den Läden, das neue Album von Michael Jackson. Dreißig Millionen Dollar soll die Produktion gekostet haben und sein Erscheinen ist logistisch nur mit der Einführung des Euro vergleichbar. Aber wie sollte es auch sonst sein: Für Michael Jackson steht schließlich alles auf dem Spiel. Der König des Pop ist zurück, um noch einmal den Anspruch auf sein Reich geltend zu machen. Und die Chancen dafür sind so gut wie seit seinem Album „Bad“ von 1987 nicht mehr.

Das Reich mag zwar mittlerweile in diverse Fürstentümer aufgeteilt sein, doch wenn es einen Künstler gibt, der glaubhaft den Lehnsherr über all die Boygroups und Nachwuchsdiven verkörpern kann, dann Michael Jackson. Und das nicht nur, weil er einmal auf dem Thron gesessen hat. Michael Jackson ist der Einzige, der tatsächlich in der Simulation lebt. Es ist seine Welt. Being Michael Jackson heißt, die Realität – also das, womit wir uns alle Tag für Tag herumschlagen müssen – für einen finsteren Schatten dessen zu halten, was eigentlich wahr ist und schön. Niemand kann das Versprechen von Pop glaubwürdiger verkörpern als Michael Jackson. Er ist nicht einfach eine Projektionsfläche für Wünsche und Begehren, wie andere Stars. Nein, er lebt in der Welt des Versprechens. Und in diesem Sinne ist er tatsächlich unbesiegbar.

Diese Geschichte beginnt mit Michaels Kindheit. Jeder Kinderstar erlebt irgendwann den Moment, wo die um ihn herum aufgetürmte Welt zusammenstürzt, wo die Simulation Risse bekommt und das hereinbricht, was man so Wirklichkeit nennt. Der Star muss feststellen, dass er auch nur ein Mensch ist. Das führt dann meist zu Alkohol- und Drogenexzessen, die im Reha-Center enden, von wo aus der- oder diejenige dann sein Comeback versucht. Geläutert, gereift, ein vollständiges Individuum. Michael Jackson ist der einzige Star, der diesen Prozess nie durchmachen musste. Die Brüche seiner Karriere funktionierten anders.

Er war der Kinderstar bei den Jackson Five, gleichzeitig aufgehoben im Familienzusammenhang und malträtiert vom herrschsüchtigen Vater. Dann kam er mit seinen Brüdern zu Motown. Doch im Unterschied zu den Generationen von Künstlern, die vor ihm bei dem Label landeten, entkam er auch hier dem Entfremdungsprozess. Marvin Gaye etwa war zunächst nur ein Arbeiter unter vielen, ein privilegierter zwar – trotzdem war er zuallererst bei Motown angestellt, dann Star. Sich davon zu emanzipieren, war ein mühsamer und schmerzhafter Prozess.

Bei Michael lief es anders. Erst war er der Kinderstar der Familiengruppe, dann der Solostar. Alles funktionierte, alles lief glatt. Wenn man sich die Aufnahmen der Jackson Five heute anschaut, dann ist Michael Jackson schon damals nicht das, was man gemeinhin unter einem Kind versteht. Wenn er tanzend Mädchen anschmachtet, ist das schon Pose – eine Möglichkeit, sich in der Simulation zu bewegen.

Nach seinem Abschied von Motown ging es weiter aufwärts. Bei den Dreharbeiten zu dem Film „The Wiz“ lernte er den Produzenten Quincy Jones kennen, und für das Album „Off The Wall“ verschmolzen die beiden zum ersten Mal Rock, Disco und Soul. Die Platte verkaufte 10 Millionen Exemplare und machte den Kinderstar zum vollgültigen Superstar. Und dann kam „Thriller“, mit 46 Millionen verkauften Exemplaren die erfolgreichste Platte aller Zeiten, die Michael Jackson zum König des Pop machte. Er dominierte die Charts wie niemand vor und niemand nach ihm. In einem gigantischen Crossover führte er die verschiedensten Genres zusammen und verband sie gleichzeitig mit der neu entstandenen Kunstform des Videoclips: Der Clip zu „Thriller“ ist die Geburt des Musikvideos, wie wir es heute kennen.

Doch hier bekam Michaels Karriere die ersten Risse, als die Victory-Tour, die die Weltherrschaft festigen sollte, sich zum Desaster entwickelte. Ein Mädchen beschwerte sich in einem Brief an Michael über die Ungerechtigkeiten beim Kartenverkauf und ein Sturm der Entrüstung über die Managementpraktiken der Jacksons brach los. Das war das eine. Das andere war, dass es Michael unmöglich sein sollte, den Erfolg von „Thriller“ zu wiederholen. Wie auch?

Auch „Invincible“ ist von den verschiedenen Bewegungen durchzogen, die Jacksons gesamtes Werk seit „Thriller“ bestimmen. Da ist zum einen das Motiv der Flucht vor der identitären Zuschreibung, die Idee, den Crossover verkörpern zu wollen, den Körper umbauen zu lassen, ein Cyborg zu werden. Schaut man sich das Cover an, so sieht Michael mittlerweile aus, als sei sein Gesicht aus den Gesichtern von Menschen verschiedenster Herkunft und Geschlecht zusammengemorpht. Und auch die Doppelbewegung des Mensch-Seins als paranoider Verpanzerung bei gleichzeitigem Bestehen darauf, die weichsten und unschuldigsten Gefühle unter der Rüstung zu haben, findet man in fast jedem Song von „Invincible“ – allerdings nicht gleichzeitig, was der Platte einen gewissen Doppelcharakter gibt: Entweder es sind Cyberfunk-Knaller, die von Rodney Jerkins produziert worden sind. Oder es sind Balladen, die Michael meist mit Terry Riley zusammengeschraubt hat oder für die er alleine verantwortlich zeichnet. So wie „Speechless“, ein Stück, von dem Jackson behauptet, er habe es geschrieben, weil er so gerne auf Bäume klettere und dabei Kinder beobachte, deren Unschuld ihn inspiriere. So hört es sich auch an.

Dazwischen werden klassische Michael-Jackson-Themen wie „Rettet die Kinder“ und „Sie hat mir Unrecht getan“ verarbeitet. In einer gewissen Weise ist er mit „Invincible“ in die Phase seiner eigenen Postmoderne eingetreten: Viele Stücke hören sich an, als wären sie Neuausgaben schon einmal bearbeiteten Materials – was aber auch damit zu tun haben kann, dass der Neuro-Funk von Rodney Jerkins tatsächlich nahe an Jacksons Vorstellungen von Künstlichkeit aus den Achtzigern ist.

Gleichzeitig begibt er sich damit denkbar nahe an den aktuellen Sound von Britney Spears oder N’Sync. Doch keine Boygroup würde jemals ein Liebeslied wie „Heaven Can Wait“ singen, das sich zwar zunächst zuckersüß anhört, aber davon handelt, dass Michael für den Fall seines Todes als Geist auf der Erde bleiben werde, um darüber zu wachen, dass seine Angebetete von niemand anderem berührt oder geküsst wird. Oder „Cry“: Ein Song, der in der Fantasie kulminiert, er, Michael Jackson, werde die Gebete seiner Fans erhören, wenn sie alle gleichzeitig anfangen würden zu weinen. Nur so könnte man die Welt ändern. Und Michael ist wahrscheinlich auch der einzige Künstler der Welt, der es wagt, sich mit Lady Di („my friend“) auf eine Stufe zu stellen, wie in „Privacy“. Könige unter sich.

Während Madonna in jeder Inszenierungen aufgeht, bleibt bei Michael Jackson, je näher man ihm rückt, immer etwas übrig: ein inkommensurabler Rest – etwas Düsteres, Geheimnisvolles. Es ist kein Zufall, dass eins der Projekte, die er in den vergangenen Jahren verfolgt hat, eine Verfilmung der letzten Monate des Lebens von Edgar Allen Poe war.

Doch dieses Tragische und Erschreckende an Michael Jackson ist gleichzeitig das Beglückend-Utopische. Einmal soll er während der Pause zu einem Videodreh in einem ganz gewöhnlichen Apartment gestanden und beim Vergleich mit seinem Schloss geweint haben. Er konnte den Gedanken, dass Menschen so leben müssen, nicht ertragen.

Michael Jackson blickt aus einer einer weit größeren Entfernung auf die Welt, als jeder hauptberufliche Kapitalismuskritiker dies je könnte. Der kann zwar die Zustände analysieren und dem System vorwerfen, ständige Versprechen zu produzieren, deren Erfüllung es gleichzeitig verweigert. Michael Jackson dagegen lebt in der Welt dieser Versprechen. Er kennt kein Realitätsprinzip, das ihm etwaige Versagungen erklären könnte. Er lebt inmitten all unserer Fantasmen. Jeder Ort ist für ihn Kulisse, sei es eine Favela in Rio, eine nächtliche Straße, ein zwielichtiger Nachtklub oder ein Friedhof. Er ist in ihnen aufgewachsen, er ist Teil von ihnen, er ist ihr König. Er ist Mann, Frau, schwarz, weiß, Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Unsterblicher, Gangster, Dandy, Verrückter, Panther, Werwolf. Man muss sich nur sein Gesicht anschauen nach all den Operationen und Behandlungen, denen er sich unterzogen hat, um zu sehen, wie weit er dafür zu gehen bereit ist. Was für uns Träume und Albträume sind, ist für Michael Jackson Realität (anders herum stimmt das genauso).

Sollte „Invincible“ die letzte Michael-Jackson-Platte sein – in Anbetracht der zahllosen Anspielungen auf das eigene Verschwinden ist das keine allzu weit hergeholte Vermutung –, kann man sich kaum etwas Treffenderes herbeiwünschen als ein Video zu „Threatened“, dem letzten Stück der Platte. „Threatened“ beginnt mit einer Stimme, die ankündigt, ein Monster wäre gekommen: „He knows every thought, he can feel every emotion“. Woraufhin Michael zu singen beginnt, er sei nicht einfach nur eine Bestie, sein Gesicht sei die Wand. Wenn man auf den Boden falle, falle man auf ihn.

Michael würde als Wiedergänger des Teenage-Werwolfs aus „Thriller“ durch das nächtliche Neverland geistern, sein Bild, wo immer man blickt, bis ihm von einem Geisterjäger blutig der Garaus gemacht wird. Schon glaubt man, es sei vorbei, da hebt der Sprecher noch einmal an: „What you have just witnessed could be the end of a particularly terrifying nightmare. It isn’t. It’s the beginning.“

Michael Jackson: „Invincible“ (Sony)

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