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Zwei Kinder auf dem Weg ins Lebensglück

■ Die Geschichten von Barnie und Ortwin: Eine Zukunftsreise in das Leben unter Schwarz-Schill  ■ Von Kaija Kutter und Sandra Wilsdorf

Sie sind beide am 31. Oktober 2001 geboren, und ihr erstes Lebensjahr verbringen Baby Barnie und Baby Ortwin sicher in der Kinderkarre. Derweil macht sich die neue Regierung ans Werk: Tempo-30-Zonen werden aufgehoben, Poller entfernt, breite Fußwege für Parkplätze verschmälert. Ortwin und Barnie lernen laufen. Und verbringen ihr zweites Lebensjahr am praktischen „Bleib-hier-Band“ ihrer Mütter.

Diese Sicherheitsleine mit Umschnallgurt für Kleinkinder kommt unter Schwarz-Schill in Hamburg wieder in Mode, weil die Regierenden im Koalitionsvertrag nur an die Bewegungsfreiheit der Autos gedacht haben, nicht an die der Kinder. Eventuelle motorische Defizite durch Bewegungsmangel, so versichern Kinderärzte, seien kein Problem. Hyperaktivität wird mit besser verträglichen Ritalin-Nachfolgemedikamenten erfolgreich gedämpft.

Im dritten Lebensjahr, nachdem beide für kurze Zeit zusammen in der Sandkiste spielten, trennen sich ihre Wege. Ortwin, von seinen Eltern aus stillem Protest gegen die Schill-Regierung nach dem Alt-Bürgermeister benannt, kommt nicht in den Kindergarten. Weil es zu wenig Krippenplätze gibt, verzichtet seine Mutter auf ihre Karriere als Nachwuchswissenschaftlerin und widmet sich fortan nur ihrem Sohn. Der neue Senat senkt zwar die Kita-Beiträge, schafft aber keinen expliziten Rechtsanspruch für Mütter, die arbeiten wollen und keine neuen Plätze. Denn Erziehung sei, so heißt es im Koalitionsvertrag, „vorrangig Aufgabe der Eltern“.

Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht für Empfänger von Sozialhilfe. Die sollen nämlich wieder arbeiten. Barnie, von seiner Mutter in der Hoffnung, es möge ihm im Leben nutzen, nach dem Innensenator benannt, ist der jüngste Sohn einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern. Weil die Koalitionäre Sozialhilfe nur noch bei Gegenleistung gewähren, nimmt sie schließlich den einzigen Job an, den sie bekommen kann: an der Wursttheke bei Edeka von 16 bis 20 Uhr.

Barnie bekommt einen Platz in der Abendkrippe, die nach Einführung der Kita-Card Betreuung bis 20.30 Uhr anbietet. Die Koalitionäre haben das umstrittene Modell komplett von Rot-Grün übernommen, es nur in „Gutscheinsystem“ umgetauft. Die Folge für Barnie: Vormittags darf er nicht in seine Kita und muss sich selbst beschäftigen.

Das macht aber nichts. Der zunehmende Verkehr bietet ihm und seinen Kumpels in der Siedlung ganz neue Spielmöglichkeiten. Zick-Zack-Laufen über die neue Tempo-50-Straße als Mutprobe oder Versteckenspielen im Parkplatz-Labyrinth, das unter Rot-Grün noch Spielhof war.

 ■ Barnie und Ortwin: Eine Reise in die Zukunft unter Schwarz-Schill

Klein-Ortwin hingegen wird von seiner besorgten Mutter als 5-Jähriger noch im Buggy geschoben, wegen der Sicherheit. Bei der Vorsorgeuntersuchung fällt dem Kinderarzt auf, dass der Junge nicht rückwärts gehen kann und Gleichgewichtsstörungen hat. Er solle Roller fahren, rät der Mediziner. Prompt schrammt das Kind auf dem Fußweg einen parkenden Mercedes. Nach dem Ärger mit der Haftpflichtversicherung holt die Mutter wieder den Buggy aus dem Keller.

Dafür macht Klein-Ortwin in der Vorschule gut mit und findet hier erstmals Freunde. Die er aber wieder verliert, als seine Eltern für ihn eine zehn Kilometer entfernte Grundschule aussuchen, die für ihr gehobenes Niveau bekannt ist. Der neue Senat hat nämlich das Stadtteilprinzip zugunsten der Wahlfreiheit auch schon bei Grundschulen eingeführt. Für Ortwins Eltern kein Problem: Seine Mutter fährt ihn täglich mit dem Zweitwagen.

Barnie hingegen bleibt bis zum sechsten Lebensjahr in der Abend-Kita. Als er in die nächstgelegene Schule kommt, ist er das frühe Aufstehen so wenig gewöhnt, dass er ständig am Tisch einschläft. Der Lehrer, der die eigens im Koalitionsvertrag festgelegten Disziplinarmaßnahmen für Schüler immer als Kopie im Pult liegen hat, lässt sich das nicht bieten. Fast die Hälfte der Zeit verbringt Barnie draußen vor der Tür. Beinah froh ist er, als er wie gewohnt bis zum Abend nachsitzen muss.

Das bleibt nicht ohne Folgen für sein Zeugnis, das unter Schwarz-Schill schon ab der dritten Klasse aus Ziffern besteht. Denn Leistung, so findet die Regierung, kann gar nicht früh genug gemessen werden. Barnie erfährt in der Schule nicht, was er kann, sondern was er nicht kann.

Aber die neue Schulpolitik ist immerhin gerecht. Auch Klein-Ortwin, der von zu Hause gut vorgebildet sich bald zum Superschüler entwickelt, bekommt eines Tages den Diziplinar-Katalog zu spüren. Als er mit Bleistift ein Männchen an die Schulwand malt, meint der Lehrer, darin ein Graffito zu erkennen. Nach dem „Verursacherprinzip“ muss der Junge am Nachmittag die ganze Mauer putzen. Der Protest der Eltern bleibt wirkungslos. Unter Schwarz-Schill sind all diese Maßnahmen juristisch absolut wasserdicht. Nach dem neuen Anti-Graffiti-Gesetz können die für ihr Kind haftenden Eltern gar froh sein, wenn sie nicht auch noch eine Geldbuße zahlen müssen.

Die PädagogInnen sind heillos überfordert, denn statt der geforderten 1000 neuen Stellen hat die Regierung gerade mal die versprochenen 400 eingerichtet. Weil die Referendare zusätzlich weniger bedarfsdeckenden Unterricht geben müssen, bleibt noch mehr Unterricht für die viel zu alten Hasen. Die Regierung hatte sich gedacht, als Ausgleich Frühpensionäre „entsprechend ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten“ einzusetzen. Doch weil die nicht ohne Grund in den Vorruhestand gegangen waren, wird der Unterricht dadurch nicht besser.

Wir schreiben inzwischen das Jahr 2011. Barnies Mutter glaubt an ihren Sohn und schickt ihn aufs Gymnasium. Doch dort bleibt er nicht lange: Die Zeugniskonferenz am Ende der fünften Klasse beschließt, dass Barnie für diese Schulform nicht geeignet sei. Er muss, so will es die neue Regierung, schon vor Ende der „Beobachtungsstufe“ wieder gehen. Auf einer Gesamtschule hätte er noch eine Chance auf die Hochschulreife.

Doch diese Schulform hält die Koalition für ein Auslaufmodell, sie stärkt stattdessen die Haupt- und Realschulen. Auch Barnies Mutter, inzwischen weichgekocht, lässt sich überzeugen. Ortwin hingegen hat eine Gymnasialempfehlung, und seine Eltern finden, er solle gleich auf den neu eingerichteten Hochbegabtenzweig der Schule. Der dafür eigens angebotene nachmittägliche private Zusatzunterricht nagt an seiner Leistungsfähigkeit. Es ist nicht schwer, vom Arzt ein konzentrationsförderndes Psychopharmakum verschrieben zu bekommen, mit dem Ortwin wieder Einsen schreibt.

Währenddessen genießt Teenager Barnie seine Freizeit. Jugendzentren in seiner Nähe gibt es nicht mehr – dieser Politikbereich hat nach der Aufteilung des Amtes für Jugend keine Priorität mehr. Aber eine Ecke neben dem örtlichen Supermarkt-Parkplatz, da lungern er und seine Kumpels von der Haupt- und Realschule schon gerne rum – sehr zum Ärger des Center-Managers. Die Jugendlichen, so mahnt der beim Polizei-Revier an, störten die öffentliche Ordung. Die Beamten reagieren prompt und nehmen das neue Gesetz zum Erhalt von „Sauberkeit, Sicherheit und Wirtlichkeit repräsentativer öffentlicher Flächen“ zum Anlass, den Platz zu räumen. Es kommt wiederholt zu Schlägereien, auch fällt der mittlerweile pubertierende Barnie durch Haschkonsum und Tags-Schmierereien auf. Er gilt als „Intensivtäter“ und kommt mit 14 ins geschlossene Heim.

Wegen der dortigen Überfüllung sind die Betreuer vollkommen überfordert und lassen die Kinder Computer spielen. Das findet Barnie zunächst ganz toll, hat aber nach zwei Wochen alles einmal durchgespielt und will wieder weg. Er bricht aus. Dieser erneuten Straftat folgt ein verlängerter Arrest.

Zwei Jahre vergehen. Unterdessen bereitet sich Ortwin auf das Zentralabitur vor, das es nun schon nach zwölf Jahren gibt. Außerdem spart er sein Taschengeld für die Studiengebühren der Universität. Denn die anfänglichen Gebühren für Langzeitstudierende sind längst ab dem ersten Semester obligatorisch geworden. Ortwin möchte gern Jura studieren und Politiker werden, sein großes Vorbild ist der Wissenschaftssenator selbst. Auch nimmt er an kostenlosen Beratungskursen der Volkshochschule teil zum Thema „Wie verkaufe ich mich am besten beim Bewerbungsgespräch für einen Studienplatz?“ Schon seit Jahren dürfen die Hochschulen sich ihre Studenten selber aussuchen. Die Dekane der Fachbereiche, so hat er vernommen, bevorzugten Querdenker. Er weiß nicht, wie das geht.

Aber er hat bei seiner Karriere-Planung nicht mit Barnie gerechnet. Nunmehr auf Dauer in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht, bleibt diesem nur das Internet, um am Leben teilzuhaben. Für Jugendliche wie ihn gibt es zwar keine erlebnispädagogischen Reisen mehr. Aber die geschlossenen Heime, die an deren Stelle getreten sind, orientieren sich „an modernen Grundsätzen zur erzieherischen Betreuung“ und sind selbstverständlich am Netz. Der Zögling entwickelt sich zum Hacker-Genie und liebt es, an den Bewerbungsunterlagen im Uni-Rechenzentrum zu manipulieren und Lebensläufe umzuschreiben. Dabei erwischt er auch den seines ehemaligen Sandkistenkumpels: Ortwin Müller, mehrfach straffällig, vier Jahre Jugendheim ohne Pause, das kommt bei den Gelehrten der Rechtswissenschaft ganz schlecht an.

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