modernes antiquariat
Fritz Rudolf Fries’ Roman „Alexanders neue Welten“
: 1979

Islamische Terroristen, auch das noch! Und ausgerechnet am 9. November 1979. Auf den Tag genau zehn Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer findet das zentrale Ereignis in Fritz Rudolf Fries’ Roman „Alexanders neue Welten“ statt. Eine ostdeutsche Kulturdelegation, mit dem Flugzeug unterwegs von Berlin nach Kuba, wird von muslimischen Luftpiraten entführt.

Das entführte Romanpersonal gerät allerdings nicht in den Nahen Osten, sondern strandet in einem westafrikanischen Kleinstaat. Auch dort war gerade Revolution, allerdings bleibt unklar, was für eine. Die Delegationsmitglieder, so heißt es am Ende des Textes, bleiben verschollen. Unter ihnen die zentrale Figur des Romans: Diplom-Philologe Ole Knut Berlinguer. Die Biografie dieses polyglotten Wahlberliners lässt den Leser von Fries’ „akademischem Kolportageroman aus Berlin“ ebenso schwindelig werden wie die zwischen Entführung und der Vorgeschichte hin- und herspringende Handlung.

Berlinguer, Sohn einer spanischen Jüdin und eines Grönländers baskischer Herkunft, ist in Prag aufgewachsen und schließlich zwecks Aufnahme eines umfangreichen Sprachenstudiums in den Fünfzigern in die DDR eingereist. Ebensowenig wie der Leser wissen auch Berlinguers Genossen, was der intellektuelle Überflieger alles so treibt. Schließlich wirft man ihn wegen „ideologischer Unsicherheit“ aus der Akademie der Wissenschaften hinaus. Ähnlich erging es Fritz Rudolf Fries, der wie Berlinguer sich daraufhin auch als freischaffender Übersetzer durchschlagen musste. Die Trennung zwischen Romanwelt und Wirklichkeit wird nicht nur an dieser Stelle aufgehoben. Die Flugzeugentführung folgt dem Vorbild von Cervantes’ Roman „Persiles“, über den niemand anderes als Berlinguer geforscht hat. Cervantes beschreibt darin die Entführung einer Reisegesellschaft durch muslimische Seeräuber. Was wirklich mit Berlinguer passiert ist, finden die in Berlin verbliebenen Genossen beim besten Willen nicht heraus. Der heutige Leser auch nicht. Der Roman fasert aus in Gesprächsprotokolle, Fußnoten und Traumsequenzen. Vielleicht sollte man erst gar nicht versuchen, den Text auf eine einfache Formel zu bringen: Der fiktive Rahmen-Erzähler wird am Ende wahnsinnig.

Fries erweist sich mit „Alexanders neue Welten“ als ein Meister intertextueller Bezüge und formaler Variationskunst. Nicht ohne Grund: Sein eher konventioneller Roman „Auf dem Weg nach Oobliadooh“ durfte in der DDR nicht erscheinen. In der komplexen Entführungsgeschichte mobilisierte der 1935 in Spanien geborene Emigrantensohn Fries offenbar erfolgreich sämtliche Camouflage-Techniken und spielte die Zensur aus: „Alexanders neue Welten“ wurde 1982 vom Aufbau Verlag gedruckt. Nach der Wende wurde zwar nicht Berlinguer, dafür aber Fries enttarnt: Er soll Spitzel für die Stasi gewesen sein.

Fries’ Roman ist nicht nur wegen der avancierten Erzählform interessant. Geradezu unheimlich ist der „prophetische“ Bezug zu den Ereignissen vom 9. November 1989 bis zum 11. September 2001. Gegen das „Verhängnis der Literatur, sich umsetzen zu wollen in Aktion, in Gelebtes“, wie Fries es als Hommage an Cervantes schildert, ist offensichtlich kein Kraut gewachsen.

Oder, mit den Worten des (allerdings nicht am 9. November) 1979 verstorbenen Arno Schmidt, dessen literarischem Erbe Fries mit seinem komplexen Verwirrspiel ebenso huldigt: „Wir lebm alle wie in ei’m kolossal’n Roman.“ ANSGAR WARNER

Fritz Rudolf Fries: „Alexanders neue Welten, ein akademischer Kolportageroman aus Berlin“. Suhrkamp, 38 DM