Trinkaltäre im Schummerlicht

Großstadtbars brauchen ein Ambiente, das der Gratwanderung zwischen Zuverlässigkeit und Anonymität gerecht wird. Zum Formenkanon gehören dunkle Holzvertäfelungen, Spiegelwände und dezentes Licht. Der Tresen sollte so tief sein, dass der Barkeeper pöbelnden Gästen ausweichen kann

Nur hinter dem Tresen gibt es eine gleichförmig helle Beleuchtung

von MICHAEL KASISKE

„Wer in Geselligkeit und dem Zusammenleben Erholung von geistiger und technischer Arbeit sucht, der braucht die festgelegte Zeremonie; die vorgeschriebene Haltung befreit ihn davon, an Äußerliches Denkkraft verschwenden zu müssen.“ Diese Feststellung des Wiener Architekten Josef Frank von 1931 trifft den Kern jeder Bar. Kaum andere städtische Räume bieten am Abend gleichermaßen eine geschlossene, dämmerige Atmosphäre zum Abschalten vom Tagesablauf. Egal ob in Berlin, Wien oder sonst wo, am Dreh- und Angelpunkt Tresen kommt gemeinhin eine semi-vertraute Stimmung auf.

Die unlängst eröffnete „Victoria-Bar“ in der Potsdamer Straße stellt sich in die Tradition der Großstadtbars, eine Gradwanderung zwischen Zuverlässigkeit und Anonymität zu unternehmen. Gemeinsam haben der Barkeeper und Besitzer Stefan Weber, der Architekt Marko Coric von C + M Architekten, das Designbüro Motorberlin und der Künstler Thomas Hauser innerhalb von drei Monaten Gestaltung und Bau wahrlich „durchgezogen“ – mit einem Ergebnis, das dennoch wohl kalkuliert und angenehm gediegen wirkt.

Der Tresen, oder der „Trinkaltar“ wie Coric das Möbel scherzend nannte, dominiert in seiner Längsrichtung die Bar und vergrößert optisch die ohnehin schon große Tiefe des Raumes. Die Vertäfelung und das Mobilar bestehen aus Nussbaum, der Tresen aus dunkler Eiche. Die Schwere dieser Hölzer wird gemildert durch die an die 70-er Jahre erinnernden runden Ecken, wodurch die Objekte eine angenehme Geschmeidigkeit erhalten. An zwei Wänden sind die wie stark vergrößerte Fotoausschnitte wirkenden, abgetönten Bilder von Hauser ein anregender Blickfang.

Der Formenkanon einer gediegenen Bar wurde von Adolf Loos 1908 mit dem Entwurf der „Kärntner Bar“ in Wien festgelegt: Neben dunklen Hölzern, Spiegeln und dezenter, punktueller Beleuchtung ein heller, visuell auffälliger Fußboden und eine dunkle Deckenverkleidung. In der noch heute existierenden American Bar kultivierte der Wiener Architekt, der bereits vor 1900 für mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten gearbeitet hatte, den abnehmenden Grad der Beleuchtung von unten nach oben, der die meisten Bars prägt: Der Boden ist hell, um sich sicher bewegen zu können, im Gesichtsfeld ist man jedoch von einem Schummerlicht umgeben, das eine gewisse Intimität verheißt. Nur hinter dem Tresen gibt es eine gleichförmig helle Beleuchtung, denn die „Bühne“ liegt dort mit den Barkeepern als Akteuren.

Deren Anforderungen an die Herstellung von Cocktails und Drinks müssen selbstverständlich erfüllt sein: Die Flächen zum Mixen mit den frischen Dingen wie Minze und Limetten, die Standorte der Gläser und die geordnete Phalanx der Flaschen. Daneben gibt es auch psychologische Bedürfnisse. So sollte der Tresen so tief sein, dass der Barkeeper dem pöbelnden Gast ausweichen kann.

Die Arbeit hinter dem Bartisch ist neben dem richtigen Herrichten der Getränke -–wichtig: gerührt oder geschüttelt – vor allem die logistische Aufgabe, nach zehn Bestellungen kein Durcheinander von Shakern, Getränken und sonstigem Zubehör verursacht zu haben. Vielleicht ist das ruhige Gemüt der meisten Barkeeperinnen und Barkeeper, das sie so diszipliniert im Umgang mit Gästen erscheinen läßt, im Grunde die Voraussetzung für diese Tätigkeit.

In der „Kärntner Bar“ waren die Spiegel unter der Decke angebracht; sie dienten zur optischen Vergrößerung des sehr kleinen Barraumes und nicht – wie heute oft zu sehen – zur Spiegelung der Kundschaft. So etwas hat die berühmteste, vielleicht einzige noch existierende Bar des Nachkriegsberlins nicht nötig. Die Galerie Bremer stammt aus der Zeit, als noch nicht über die Ver- und Entflechtungen der Kölner und der einheimischen Kunstszene geschrieben wurde, sondern mit Namen wie Heinz Trökes oder Hans Uhlmann die Gegenwartskunst Westberlins erschlagen war. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg gegründet, war das Anliegen der Galeristin Anja Bremer nicht nur die Vermittlung moderner Kunst nach den Jahren der braunen Volkstümeleien, sondern auch ein Forum zum gegenseitigen Austausch zu bieten. Die Bar wurde daher von Hans Scharoun mehr als „Gesellschaftsraum“ denn als coole Bar konzipiert.

Kleine, niedrige Holztische reihen sich locker hintereinander; entlang den Längswänden ziehen sich Bänke mit aufgelegten Sitz- und aufgehängten Rückenkissen, die mit rotem Markisenstoff bezogen sind; an den Wänden hängen gebogene, transparente Leuchten. Der Tresen selbst ist unauffällig, nicht jedoch der wundersam geflochtene Baldachin, der eine für die 1950-er Jahre typisch beschwingte Interpretation eines Weinregals darstellt. Ein besonders zeittypisches Highlight sind die Tropfkerzen, die – in Flaschen gesteckt – wahre Fluten an farbigen Stearin über das Glas ergossen haben. Was den jüngeren Bars noch fehlt, hat in der Galerie Bremer in den 45 Jahren ihres Bestehens mit Rudolf van der Lak etabliert: Dass die Person des Barkeepers und das Interieur untrennbar zusammen gehören.

Der gegenwärtige Barboom in Berlin hat freilich in Mitte stattgefunden. Zu den Bars rund um den Gendarmenmarkt, die genauso solide und interessant sind wie die Natursteinfassaden, die ihre Entwerfer in der Gegend abgestellt haben, bildet „Riva“ eine angenehme Ausnahme. In einem S-Bahnbogen nahe dem Hackeschen Markt wurde diese Lokalität von den Architekten Stefan Kühlhorn und Burkhard Niehaus entworfen. Aufgrund der gebogenen Decke und des Ansatzes des nach unten fortgeführten, unter Fußbodenniveau befindlichen Gegenbogens sowie der undurchdringlichen Vorhänge vor den Glasflächen ist hier die Raumschiff-Atmosphäre sehr stark. Der große ovale Tresen in der Mitte tut ein Übriges, sich unter dem Einfluss einiger Drinks imaginär in ein „Startreck“-Ambiente zu beamen.

Doch beim Schritt nach draußen ist das Schicksal unvermeidlich wie beim Verlassen jeder Bar: Alle Bartraulichkeit ist verflogen, der Alltag wird mit leichtem Schwips neu belebt.

Victoria-Bar, Potsdamer Straße 102, Berlin-Schöneberg, Mo.-Fr. ab 18 Uhr; Galerie Bremer, Fasanenstraße 37, Berlin-Wilmersdorf, Mo.-Sa. ab 20 Uhr; Riva, Dircksenstraße 3 Bogen 142, Berlin-Mitte, täglich ab 20 Uhr