Die Krise als Chance in Georgien

Bei den andauernden Demonstrationen in der georgischen Hauptstadt geht es um mehr als die Freiheit der Medien. Die Ära von Präsident Schewardnadse geht zu Ende. Jetzt muss ein friedlicher Weg zum Aufbau eines Rechtsstaats gefunden werden

aus Tiflis DAPHNE SPRINGHORN

Seit drei Tagen demonstrieren vor dem georgischen Parlament in der Hauptstadt Tiflis tausende Georgier. Auslöser ist die Schließung des unabhängigen Fernsehsenders Rustawi 2, aber nicht nur zu Gunsten der Pressefreiheit stehen die Menschen auf der Straße, sondern auch um ihren Unmut auszudrücken. Georgien steht wirtschaftlich vor dem Bankrott; Korruption hat sich als Machtmittel durchgesetzt. 80 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.

„Schewardnadses Methoden sind nicht angemessen, um eine Krise zu verhindern“, sagte am Donnerstag vor laufender Kamera der Parlamentspräsident. „Er hat sein Gespür für das politisch Machbare verloren.“ Kurz davor hatte Schewardnase die georgische Regierung aufgelöst, weil das Parlament den Rücktritt des Innenministers Kacha Targamadse gefordert hatte. Targamadse wird für die staatlichen Übergriffe auf den unabhängigen Fernsehsender Rustawi 2 am Dienstag verantwortlich gemacht. Von Schewardnase als sein möglicher Nachfolger ausersehen, genoss Targamadse dessen besonderen Schutz, und das, obwohl er wie kein anderer Minister der Korruption verdächtigt wurde. „Drogenbaron“ wird der Innenminister im Volksmund genannt, da er für Lieferung „heißer Ware“ aus Afghanistan über Aserbaidschan durch Georgien in die Türkei verantwortlich sein soll.

Die Auflösung der Regierung durch Schewardnadse, Verfassungsänderungen und Neuwahlen sind der Bevölkerung nicht genug. Sie wollen, dass der Präsident zurücktritt, denn – so Marina Muschelischwili vom Center of Social Science – „er hat es nach sechsjähriger Präsidentschaft bisher nicht geschafft, staatstragende Institutionen aufzubauen. Er konnte die Korruption in der Regierung nicht eindämmen und die wirtschaftliche Talfahrt des Landes auffangen. Der Energiesektor ist nach wie vor in einem jämmerlichen Zustand, und die Russen befinden sich immer noch auf georgischem Territorium. Als ehemaliger Kommunist stützt er sich auf die selben Personen und die selben Methoden, die schon zur Zeit der Sowjetunion gängig waren.“

Noch verlaufen die Demonstrationen ruhig, noch gibt es keine Gewaltausschreitungen wie bei den letzten großen Demonstrationen in Georgien, die 1991 in einem Bürgerkrieg endeten. Alexander Rondeli, politischer Berater im Außenministerium, glaubt an eine positive Entwicklung: „Die größte Sorge der Amerikaner und der Westeuropäer war stets, ob es in Georgien überhaupt eine Machtübergabe ohne Gewaltanwendung geben würde. Man fragte sich immer, was denn passieren würde, wenn eines Tages Schewardnase nicht mehr Staatsoberhaupt wäre. Die Ereignisse der letzten Tage zeigen zumindest teilweise, dass die politische Kultur der Bevölkerung sich verbessert hat und dass politische Spannungen nicht zwangsweise zu Gewalt und Chaos führen.“

Ein sofortiger Rücktritt Schewardnases würde den georgischen Staat handlungsunfähig machen. Russland bombardiert nach wie vor georgisches Territorium an der Grenze zwischen Georgien und dem abgespaltenen Abchasien, da sich hier Tschetschenen aufhalten sollen. Da die Weltöffentlichkeit seit dem 11. September den russischen Krieg in Tschetschenen weniger kritisiert, geschieht dies weitgehend unbemerkt. Die Versuche der georgischen Regierung, durch Unterstützung von Partisanen im Kodori-Tal an der Grenze die Situation unter Kontrolle zu halten, sind fehlgeschlagen. Im Gegenteil – nach russischer Auffassung machen die Partisanen mit tschetschenischen Söldnern „gemeinsame Sache“, weshalb Russland sich zu militärischen Aktionen gezwungen sähe.

Möglicherweise hätte sich die jetzige Staatskrise verhindern lassen, wenn im Mai die georgische Präsidialverfassung geändert worden wäre – in Richtung eines Ministerkabinetts mit einem Premierminister an der Spitze. Doch damals lehnte das Parlament einen entsprechenden Vorschlag Schewardnases ab, weil er sich die Oberaufsicht über Innen-, Verteidigungs- und Staatssicherheitsministerium vorbehalten wollte. Jetzt muss Schewardnase dem Parlament einen neuen Vorschlag vorlegen. Im Ringen um die Macht werden die Stimmen auf der Straße entscheidend sein.

„Es ist wie damals zu Zeiten der Perestroika“, hofft die Soziologin Marina Muschelischwili. „Die junge Generation kämpft gegen die alten Kader. Aber wir sollten nicht dem russischen Beispiel folgen, sondern Reformen durchführen, bis Georgien tatsächlich ein demokratischer Rechtsstaat geworden ist.“