„German Kampfgeist“

Der Sportjournalist David Winner fühlte dem deutschen Fußballverständnis den Puls

Sepp Herberger war der General. David Winner, der kleine bärtige Engländer mit der randlosen Brille sitzt hinter seinem Tisch und rudert mit den Armen. Es gebe ein berühmtes Foto des ehemaligen Nationaltrainers, auf dem er mit zackigen Handbewegungen seine Mannschaft dirigiert. Winners Versuch, das nachzuahmen, überzeugt nicht vollends. Herberger, so Winner, habe den ersten WM-Triumph einer deutschen Mannschaft 1954 geplant wie ein „Ein-Mann-Generalstab“ den „Schlieffen-Plan“. Mit Hilfe des „Schlieffen-Plans“ wollte die deutsche Generalität im Ersten Weltkrieg Frankreich überrennen. So sind sie halt, die Engländer. Politik, Fußball und schwarzen Humor können sie locker in einem Satz unterbringen. Der Deutsche kann das nicht, aber vielleicht beginnt er genau dort, der Niedergang des deutschen Fußballs.

Das noble Potsdamer Einstein-Forum hatte den englischen Sportjournalisten mit Wohnsitz in Amsterdam geladen. Thema des Abends: „National identity through football“. Gemäß dem distinguierten Akademikerzirkel mit honorigen Sponsoren wie IBM und Dresdner Bank lümmelten sich denn auch weniger die bierbäuchigen Kuttenträger im Saal.

Winner hat sich bereits in seinem Buch „Brilliant Orange“ dem holländischen Fußball gewidmet. Vorgestellt wird er von Moderator Wolfert von Rahden als Fan von Arsenal London und Ajax Amsterdam. Ohne Zweifel: Ein waschechter Fußballdelektator. Im Fokus des Abends in Potsdam sollte jedoch der deutsche Fußball vor dem Panorama nationaler Identität stehen.

Ein weites Feld. Winner bastelt sein fußballerisches Paralleluniversum um die jüngste deutsche Geschichte. Im Mittelpunkt stehen die WM-Erfolge von 1954, 1974 und 1990. Am Ausgangspunkt steht jener Sepp Herberger, laut Winner, „der Vater des mordernen deutschen Fußballs“. Herbergers Biografie wird als Spiegelbild des Nachkriegsdeutschen entworfen. Seine Karriere als Nationaltrainer begann nach den Olympischen Spielen 1936. „Herberger hat sich nie für Politik interessiert, nur für Sport“, sagt Winner. Der Trainer als Archetyp des nachkriegsdeutschen Mitläufers. Der Gewinn der ersten Fußballweltmeisterschaft mit deutscher Beteiligung nach dem Weltkrieg war seine Mission. Nach einem Spiel der damals führenden Fußballnation Ungarn soll er einem Journalisten verraten haben: „Ich weiß, wie sie geschlagen werden können. Aber wir schaffen es nur einmal.“ Folgerichtig ging die deutsche Mannschaft in der Vorrunde des Turniers mit 3:8 gegen die Magyaren unter. Der Rest ist Geschichte. Das „Wunder von Bern“, der deutsche 3:2 Finalsieg, wurde zum Kristallisationspunkt deutscher Nachkriegshoffnungen. „German Kampfgeist changed sport and political history“, charakterisiert Winner den Erfolg des physisch überlegenen deutschen Teams.

Herbert Zimmermanns atemraubender Hörfunkkommentar der Schlussminuten wurde Legende. „Aus, aus, aus, aus, das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“, brüllte der Berichterstatter ins Mikrofon. Zwanzig Jahre später unterlegte der Filmemacher Rainer Werner Fassbinder damit die Schlussszene seines Films „Die Ehe der Maria Braun“. Eine bittere Abrechnung mit dem deutschen Wirtschaftswunder, die Protagonistin begeht zu Zimmermanns Kommentar Selbstmord.

Zu dieser Zeit, Anfang der 70er-Jahre, war die Blüte deutscher Fußballkreativität bereits erwacht. „Total football“ war die Devise, so Winner. Die teutonische Dampfwalze hatte ausgedient. Kreativ und elegant hätten die Deutschen auf einmal gespielt, begeistert sich Winner. Günther Netzer, der langhaarige Mittelfeldmotor von Borussia Mönchengladbach, verkörperte das neue Ideal.

Doch die deutsche Fußballherrlichkeit währte nur kurz. Bei der WM 1974 ließ Trainer Helmut Schön Netzer auf der Bank, zu Gunsten des Kämpfertypen Wolfgang Overath. Die Besinnung auf die „deutschen Tugenden“ – Kampfgeist, Disziplin, physische Überlegenheit – nahm wieder ihren Lauf. Auch der gesamtdeutsche WM-Titel 1990 baute immer noch auf diesem archaischen Verständnis auf, so die Meinung Winners.

Ein Grund für den Niedergang liegt laut Winner darin, dass es die Deutschen nicht wie Holland oder Frankreich geschafft hätten, ihre nationalen Minderheiten wie etwa türkischstämmige Fußballer zu integrieren. Fußball wieder als Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Problematiken.

Am Ende fragt der Zuhörer: „Wozu brauchen wir noch Fußballnationalmannschaften? Um guten Fußball zu sehen?“ Er antwortet selbst: „Nein.“ Natürlich nicht. Winner sieht den größeren Zusammenhang: Leider sei Fußball auf internationaler Ebene oft „ein Vehikel für negative Dinge wie Nationalismus“. Und fügt leise hinzu: „But I like national teams.“ MICHAEL DRAEKE