: Pomp Duck and Lumpennostalgie
Überall winke, winke machen: In zehn Jahren Intendanz hat Peter Eschberg das Frankfurter Theater zur Marginalie gemacht. Nun will die neue Leiterin Elisabeth Schweeger das Politische zurückholen. Doch zum Saisonbeginn gab es statt Experimenten jenseits des Sprechtheaters eher Häppchenkultur
von CHRISTIANE KÜHL
Früher hieß der Platz vor dem Frankfurter Theater Theaterplatz, was einer gewissen Logik folgte. Seit Mitte der Neunzigerjahre heißt er Willy-Brandt-Platz. Mit der Rückkehr des Politischen ins urbane Zentrum hat das so wenig zu tun wie mit einer aktualisierten Ortsbeschreibung: Kommt man mit der U-Bahn an, vermitteln die Schriftzüge auf dem Ausgangsschild zwar ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Europäischer Zentralbank/Jüdischem Museum/Städtischen Bühnen, doch sobald man ins Freie tritt, werden die Verhältnisse relativiert. Dresdner Bank, Berenberg Bank, Direktbank, die National Bank von Griechenland und natürlich die von Sir Norman Foster entworfene Commerzbank füllen den Platz Richtung Himmel. Dazwischen ducken sich Oper und Schauspiel. Seit zwei Wochen mit einer Art Hilferuf: „Protect from all elements“ steht mit großen Lettern auf der Fassade, wobei das „from“ mit einer dünnen Linie durchstrichen war.
Am Freitag zur späten Eröffnung der Saison konnte man nicht anders, als den Verteidigungsgedanken auf Milzbrand zu beziehen, aber er stand da auch als Zeichen wiedererwachter Selbstbehauptung. Das Frankfurter Theater war lange in der Versenkung verschwunden. Im durchaus befruchtenden Main-Klima von William Forsythes’ Ballett, dem internationalen Theater Produktions- und Gastspielort Mousonturm, dem einstigen Avantgardehort Theater am Turm (TAT), dem Museum für Moderne Kunst, und direkt neben der Goethe-Universität, wo Hans-Thies Lehmann postdramatisches Theater analysiert, hatte es Peter Eschberg während seiner zehnjährigen Intendanz geschafft, das städtische Schauspiel komplett aus der Diskussion zu bringen. Dort fand es sich erst wieder, als zu Beginn letzten Jahres eine offensichtlich konfuse Frankfurter Kulturverwaltung Elisabeth Schweeger zu seiner Nachfolgerin berief. Eigentlich hatte man den damaligen Leiter der Münchner Kammerspiele Dieter Dorn haben wollen, aber der ließ sich nicht nach Frankfurt locken.
Man probierte es mit seinem Zögling Jens Daniel Herzog, doch der 35-jährige Regisseur hatte sich bereits als Intendant in Mannheim verpflichtet. Plötzlich stand Schweeger auf der Liste – die ehemalige Leiterin des Münchner Marstalls, deren Programm den beiden konservativen Wunschkandidaten diametral entgegensteht. Wie es zu dieser Entscheidung kam, ist kaum nachzuvollziehen, doch sie wurde – entgegen allem kulturpessimistischen Warngeschrei der Presse, die das klassische Sprechtheater für immer verloren sah – von der CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth auch durchgezogen.
„Haltungen erzeugen und Haltung zu beziehen“ nennt Schweeger im Spielplanheft die Aufgabe des „Theaters als zentralem Ort in einer Stadt“. Anders als ihre Kollegen Tom Kühnel und Robert Schuster, die vor drei Jahren die künstlerische Leitung des TAT mit einem Manifest des „affirmativen Theaters“ übernahmen, ist Schweegers Vorstellung einer politischen Ästhetik dabei alles andere als dogmatisch. Dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Macht und Souveränität, so die ehemalige Lehrbeauftragte der Wiener Akademie der Künste, könne man sich nur über differenzierte Fragen nach der eigenen Identität nähern. Und das Theater „muss diesen Diskurs eröffnen mit einer Vielzahl an Interpretationen und künstlerischen Sehweisen“.
Diese prinzipielle Offenheit gegenüber verschiedenen Sehweisen respektive Präsentationsformen bestimmte ihre siebenjährige Arbeit im Marstall. Sie zeigt sich auch im Spielplan, den die 46-Jährige für das Schauspiel Frankfurt erarbeitet hat. Schon am Eröffnungswochenende wurde deutlich, dass Elisabeth Schweeger das deutsche Stadttheater für definitiv mehr als sprechtheatertauglich hält: Den Start legte sie in die Hände der holländischen Opernregisseurin Saskia Boddeke und des britischen Filmemachers Peter Greenaway, die Choreografin Wanda Golonka setzte ein „Literarisches Bankett“ in Szene, die junge Schweizer Regisseurin Simone Blattner inszenierte „Elektra“, und der französische Philosoph Jean-Luc Nancy lud bei Tee und Keksen zu einem Salon auf der Hinterbühne.
Leider zeigte das erste Wochenende aber auch, dass Offenheit allein kein künstlerischer Wert ist. Statt einer Richtung zeugten die Inszenierungen von einem Willen zur Allpräsenz: überall winke, winke machen. Angefangen von Schaukästen in der U-Bahn über Klanginstallationen rund ums Haus und im Foyer rezitierenden Schauspielern wurde Konzentration zersplittert statt fokussiert. Dabei zeichneten sich die angebotenen Fragmente vor allem durch Komensurabilität aus: einem Textchen lauschen, einen alten Koffer mit Haaren und Seife vor der Garderobe beglotzen oder alte Bekannte begrüßen ließ sich nahtlos gegeneinander austauschen. Am augenfälligsten wurde die Häppchenkultur beim „Literarischen Bankett“: Wanda Golonka, die einst bei „Neuer Tanz“ mit V. A. Woelfl durch bis zur Arroganz gestrenge Choreografien Publikum zur Weißglut brachte, kombinierte unter dem Titel „Mit vollem Munde“ Literatur mit einem exquisiten Fünf-Gänge-Menü. Zehn Autoren, darunter Dea Loher, Moritz Rinke und Albert Ostermaier, hatten für den Neustart Texte verfasst, die nun als Aperçus gereicht wurden. Elfriede Jelinek gab’s auf dem Damenklo, Feridun Zaimoglu zu Erbsenpürree mit Minze. Der größte Einbruch von Realität kam hier in Form eines Kamels, das zwischen den langen Tischen eierte, während von seinem Rücken herab Gisela von Wysocki gelesen wurde. Ein Kamel! Kinder! Total verrückt! Zur Sponsorendelektion wäre ein Erlebnisessen à la „Pomp Duck and Circumstance“ verzeihlich, als Veranstaltung für ein denkendes Publikum hinterlässt die Textvernichtungsbanalität nur peinlichen Nachgeschmack.
Ein enttäuschendes Gefühl von Harmlosigkeit verbreitete auch „Gold. 92 bars in a crashed car“. Peter Greenaway hat 92 kurze Episoden verfasst, die jede die Geschichte eines Goldbarrens erzählt, geschmolzen aus konfisziertem jüdischen Gut. Nicht alle Episoden kommen auf die Bühne, aber alle treffen sich in der Figur des Josef Harpsch, der am 8. Mai 1945 mit den Goldbarren im Auto tödlich verunglücken wird.
Harpsch erscheint nur auf Videos, die auf beeindruckende neun, im Halbrund angeordnete Leinwände projiziert werden. Mit wirkungsvollen Blue-Screen-Effekten kombiniert der Kinoregisseur die Bilder zu interessanten Panoramen. Was zeitgleich auf der Bühne geschieht, ist ungleich langweiliger: Saskia Boddeke lässt die Schauspieler stets frontal zum Publikum erzählen, das bald in einem Meer von beschriebenen Details untergeht. Ab und an illustriert jemand das Gesagte gestisch oder szenisch, mal singt einer, mal tanzt eine andeutungsweise. Statt Schrecken verbreitet sich Lumpennostalgie; das sparsame Geschehen auf der leeren Bühne erinnert an dramatischen Poesiebegriff der Achtzigerjahre. Später, wenn die Duschköpfe über der Bühne sich öffnen und über einem nackten Toten so viel Nass gegossen wird, dass bald die ganze Bühne unter Wasser steht, denkt man erst ein wenig an Gaskammern und dann an Pina Bausch.
So behauptet sich das Politische jedenfalls nicht in der ästhetischen Produktion. Auch nicht in Simone Blattners Inszenierung von Hugo von Hofmannsthals „Elektra“, in der ein offensichtlicher Wille zur Form nur Manierismen produziert. Die Figuren verharren in insektenhaften Posen und intonieren Verse in solch wechselhaftem Singsang, dass man meint, sie würden für Sprachexhibitionismus und nicht Sinntransportation bezahlt.
Am spannendsten im Reigen der Veranstaltungen war das Gespräch zwischen Jean-Luc Nancy und dem via Videokonferenz aus Rom zugeschalteten Philosophen Antonio Negri über Produktion und Kreation, also den Begriff der Schöpfung in Theologie, Kunst und Ökonomie. Doch so großartig es ist, dass das Schauspiel Nancy zum kontinuierlichen „begleitenden Nachdenken“ im öffentlichen Salon gewinnen konnte und damit seinen Vernetzungswillen ein Stück weit realisiert – beweisen kann sich auch das Frankfurter Theater nicht in der Theorie, sondern nur in eigener Praxis. Trotz eines unglücklichen Auftakts stehen die Chancen für das „schauspielfrankfurt“ dabei nicht schlecht. Die Leerstelle zwischen Theater und Stadt scheint nicht nur typografisch, sondern auch in Wirklichkeit schon ein klein wenig geschrumpft. Für die städtische Bühne ist das, wie lokale Geister versicherten, „ein Quantensprung“. Sollte die Entwicklung in dem Tempo weitergehen – und vor allem eine konkrete Richtung annehmen –, wird man vielleicht eines Tages auch auf der Bühne Negris interessante Frage nach der Vorstellung von Innovation der Ewigkeit diskutieren. Nichts gegen Norman Foster, aber wie die Commerzbank wird das nicht aussehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen