Der Glanz wird blasser

Blick in eine glorreichere Vergangenheit: Thomas Häßler (1860 München) ist neben Andreas Möller der einzige noch aktive deutsche Fußballer, der Weltmeister und Europameister war

„Man kann sich eine WM ohne Deutschland kaum vorstellen. Aber es ist möglich.“

aus München FRED STEIN

Wenn die Zeiten schlecht sind, kramt Thomas Häßler ganz gerne in seiner Vergangenheit. Wie in einer Kiste aus Kindertagen, in der noch das ein oder andere schöne Kostüm steckt. Das zieht er dann heraus, erinnert sich an die Zeit, als er es trug, und lächelt selig. Die Gedanken an früher können sehr tröstlich sein, weil das Früher auf seltsame Art immer irgendwie besser zu sein scheint als die Gegenwart. Und bei Thomas Häßler ist das ja auch so, wenn man ehrlich ist. Er ist immer noch ein Fußballstar, Blickfang des TSV 1860 München, wertvoll für seinen Klub als Toreerzieler, Vorbereiter, sportliche Leitfigur. Aber sein Glanz wird blasser. Er ist nicht mehr so schnell wie früher. Die Wege auf dem Rasen fallen ihm schwerer. Er ist 35. Die großen Tage seiner Karriere liegen Jahre zurück. Weltmeister 1990, Europameister 1996 – das bleibt, aber es kommt nicht wieder.

„Wenn Sie mir Spiele nennen“, sagt Thomas Häßler, „erinnere ich mich sicher noch an die ein oder andere Einzelheit.“ Es ist eine Art Quiz, und Häßler liebt es, weil er dabei glänzen kann. Also: Köln-Müngersdorf im November 1989, Deutschland – Wales, WM-Qualifikationsspiel. 48. Minute, 1:1, Deutschland muss gewinnen, um 1990 Weltmeister werden zu können. Flanke, Häßler stürmt heran. Trifft den Ball volley. Tor, zwei-eins. Dabei bleibt es. Häßler lächelt. „Das werde ich nicht mehr vergessen.“ Er sagt: „Das sind so Sachen, die bauen dich auf, wenn du im Tief bist.“

Es stimmt ja, an diesen Geschichten kann man sich aufrichten, und zwar nicht nur ein alternder Häßler, sondern auch eine ganze geschundene Fußballnation, die seit Jahren eine böse, graue Gegenwart umweht. Die WM 1998 endete im Viertelfinale mit einem 0:3 gegen Kroatien, die EM wurde zum Desaster, das Häßler sogar hautnah miterleben durfte damals, als Teamchef Ribbeck ihn noch einmal zurückholte: Aus in der Vorrunde, 0:3 gegen Portugal. „Das war“, Häßler senkt den Blick, schweigt kurz, sammelt sich, „nix.“ Und seither? Ein paar Ansätze zur Besserung, Funken von Hoffnung. Und weitere Rückschläge: 1:5 gegen England, 0:0 gegen Finnland, jetzt die zwei Relegationsspiele gegen die Ukraine. Die WM-Qualifikation ist in Gefahr. Häßler hat es beobachtet: „Man kann sich eine WM ohne Deutschland kaum vorstellen. Aber es ist möglich.“

Was bleibt der Nation da anderes übrig, als zu bangen und sich in Nostalgie zu flüchten. Mit Häßler zum Beispiel, denn mit dem klappt das ganz gut. Er ist der letzte Verbliebene aus dem Kreis der Welt- und Europameister, eine Art Denkmal, das daran erinnert, dass es nicht immer so schlecht bestellt war um den deutschen Fußball. Gut, es gibt noch Andy Möller, der auf Schalke die letzten Bahnen seiner Karriere zieht. Aber der kam 1990 ja kaum zum Einsatz und 1996 trug er immer noch diesen Ruf als Heulsuse und ewiges Talent mit sich herum. Ein richtig großer Spieler war er nie. Häßler schon. Ein Sensibelchen zwar, gutmütig bis zur Naivität, gebeutelt von Formkrisen, ein Anführer, den man stützen musste. Aber wenn er einen guten Tag hatte, dribbelte er wie kein Landsmann vor ihm, fintierte, flankte, schnibbelte. Dass diese beseelten Füße einem Deutschen gehörten, konnte die Nation damals noch nicht hoch genug schätzen. Heute schon. Sie sehnt sich nach etwas Ähnlichem. Aber das gibt es nicht mehr.

Er selbst überdenkt seine Biografie nicht in sporthistorischen Dimensionen. Er ist stolz, aber kein Prahlhans, eher dankbar für dieses Talent, das ihm irgendwer in die Wiege gelegt hat. „Das können nicht viele von sich sagen, Weltmeister geworden zu sein, und dann auch noch Europameister“, sagt er. „Mein Gott, was willst du mehr.“ Der Fußball hat ihm ein wunderbares Leben geschenkt, das weiß Häßler. „Fußball ist wirklich der schönste Beruf auf der Welt, den man kriegen kann.“ Er sagt: „Auf dem Feld fühle ich mich geborgen.“ Und: „Ich lebe für den Fußball, Fußball ist mein Leben. Dadurch bin ich groß geworden. Und ich versuche, das mit konstant guten Leistungen zurückzugeben.“

So müsste jeder Fußballer denken, denkt Häßler, und so schaut er dieser Tage auch auf dieses Häuflein mehr oder weniger begabter Jünglinge, die gegen die Ukraine die Nationalelf bilden sollen. Er ist kein großer Kritiker. Er mag ja selbst keine Kritiker. In Häßlers Welt gibt es keine Kanten, wer ihn nicht umarmt, will ihm Böses. Und weil er selbst niemandem Böses will, wettert er mehr über die Kritiker der Nationalelf, als über die Nationalmannschaft selbst. „Na hör’n Se mal“, ruft Häßler so empört, wie er kann, „einen Besseren als den Rudi kriegen sie nicht mehr.“ Teamchef Völler, sein alter Freund – den muss man doch lieb haben. „Allerdings“, und dann wird Häßler ernst, „wenn man sich das Spiel gegen Finnland so anschaut, muss man sich schon fragen, ob die Spieler da alle überhaupt noch Lust haben, für die Nationalmannschaft zu spielen.“ Er sagt das eher mit Bedauern als polemisch. Aber das richtet die Adressaten noch viel härter als jede Tirade. Wenn selbst der wohlwollende Häßler so etwas sagt, muss es schon weit gekommen sein. „Für die Nationalmannschaft muss man sich den Hintern, besser gesagt den Arsch aufreißen“, sagt Häßler. „Tschuldigung, wenn ich das so sage“, aber er versteht nicht, wie man anders an die Sache herangehen kann.

Er wird sich die Spiele anschauen. Natürlich. Wahrscheinlich sieht er das sogar als seine nationale Pflicht. Loyal sein zu Rudi und den anderen in diesen Zeiten, das ist sein Programm. Und den jungen Kollegen, die es nicht kapieren, ein paar einfache Sätze predigen. „Es gibt doch nichts Genialeres, als bei einer WM oder EM zu spielen“, ruft Häßler und klingt dabei ein bisschen verzweifelt. Als wäre es das letzte Argument. Er wünscht sich so sehr, dass Völlers Männer es verstehen.