Trauer im Uterus

■ „Elektra“ am Thalia als streng komponiertes Klagelied

Es gibt Leute, die klagen und klagen, und selbst wenn sie Recht haben, kann man die ewige Litanei bald nicht mehr hören. Elektra ist so ein Mensch. Unaufhörlich beklagt sie den Tod ihres Vaters, ermordet von der eigenen Mutter und dessen Liebhaber. Und sie wartet. Wartet seit 20 Jahren auf ihren Bruder Orestes, der beim Muttermord noch ein Kind war und den Vater rächen soll.

Den Schmerz, die Einsamkeit, die Wut Elektras hat Sophokles vier Jahrhunderte vor Christus theatralisch umgesetzt. Erstaunlich, wie zeitlos der antike Stoff in Dimiter Gotscheffs Inszenierung am Thalia in der Gaußstraße wirkt. Rache und Vergeltung, so scheint es, gehören zu den wiederkehrenden Themen der Menschheit. Auf der Weltbühne ist der Kreislauf der Gewalt gerade wieder ein Live-Trauerspiel, auf der Bühne in der Gaußstraße symbolisiert ihn Ausstatter Andreas Kriegenburg (der im Dezember mit demselben Bühnenbild Euripides' Medea inszeniert) mit einer Drehtür. Durch sie treten Mörder und Rachedurstige auf die an einen Uterus erinnernde blutrote Bühne und gehen als Opfer und Mörder wieder hinaus.

Schon der Anfang ist eine Ouvertüre zur Gewaltspirale: Christa Müller spricht Heiner Müllers Elektra-Text, nein, sie singt die nüchterne Litanei von Mord und Totschlag monoton einlullend. Die ganze Inszenierung kann man als streng durchkomponiertes Klagelied für mehrere Solisten und einen Chor verstehen. Ein Klagelied, bei dem manches Solo zu lang gerät, die Refrains aber faszinieren. „Im Unheil liegt der Zwang, selber Unheil zu vollbringen.“ Diesen Schlüsselsatz von Elektra greifen alle Darsteller auf, rufen ihn wild durcheinander, bis er sich tief ins Gedächtnis eingräbt.

Doreen Nixdorf ist eine ganz zarte Elektra. Die meiste Zeit kauert sie reglos auf dem blanken Bühnenboden, den Kopf in Habachtstellung zur Seite gesenkt, eine schwarze Jacke schützend um sich geschlungen. Ein Sinnbild der Verlassenheit und Trauer. Angesichts der Mutter verfällt sie in eine zugleich Bedürftigkeit und Abwehr ausdrückende Embryonalhaltung. Überhaupt: Die Gesten haben in dieser sehr konzentrierten Inszenierung eine beredtere Sprache als viele Worte. Stiefvater Aigisthos (Peter Kurth) macht kleine wegwischende Bewegungen gen Elektra, Mutter Klytaimnestra (Almut Zilcher) fährt sich ebenso zwanghaft fahrig übers Haar wie die angepass-te Schwester Chrysothemis (Leila Abdullah). Nur Bruder Orestes (Felix Knopp) fällt im seltsamen Doppelgespann mit Freund Pylades (Benjamin Utzeratz) als dumm-dreist grinsender Schuljunge aus dem Rahmen. Ein alberner Fremdkörper in einer ansonsten stimmig-strengen Aufführung. Karin Liebe

nächste Vorstellungen: 15., 22., 25. 11. , 20 Uhr, Thalia Gaußstraße 190