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Schlechter als schlecht

Morgen kann sich Brasilien als viertes südamerikanisches Team für die WM 2002 qualifizieren, doch die Fans zittern vor dem entscheidenden Heimspiel gegen den sonstigen Prügelknaben Venezuela

aus São Paulo GERHARD DILGER

Wer hat Angst vor Venezuela? Bislang galten die Kicker von der Karibik noch bei jeder WM-Qualifikationsrunde in Südamerika als Prügelknaben. Vor Jahresfrist unterlagen sie Brasilien zu Hause sogar mit 0:6. Morgen steigt in der nordöstlichen Hafenstadt São Luís die Revanche. Und so manch einen brasilianischen Fußballfan beschleicht eine böse Vorahnung. Da ist zum einen die überraschende Erfolgsserie der Underdogs: Die letzten vier Spiele gewannen die Venezolaner mit einem Torverhältnis von insgesamt 10:1. Dabei zogen so illustre Mannschaften wie Uruguay oder Paraguay den Kürzeren.

Aus brasilianischer Sicht gravierender ist jedoch das Dauertief der eigenen Leute. Zwar liegt die „Seleção“ vor dem letzten Spiel einen Punkt vor Uruguay, das die argentinischen Erzrivalen empfängt. Wenn es so bleibt, ist Brasilien mit Argentinien, Paraguay und Ecuador direkt qualifiziert, sonst drohen zwei Relegationsspiele gegen Australien. Nach den Niederlagen der letzten Monate ist sogar das Undenkbare denkbar geworden. Zuletzt war das Team um Rivaldo mit einem 1:3 in Bolivien noch gut bedient. Bei der Copa América im Juli musste der Vierfachweltmeister mit 0:2 gegen Honduras die Segel streichen. Danach erkannte die Folha de São Paulo: Brasilien sei „die schlechteste Mannschaft des 21. Jahrhunderts“. Sechs Partien haben die Gelb-Grünen verloren, nur eine weniger als Mexiko. Doch im direkten Vergleich gewannen die Mittelamerikaner. Folglich sei Brasilien „schlechter als die Schlechtesten“.

Wie konnte es dazu kommen? Für Venezuelas Nationalcoach Richard Paéz scheint Brasilien „seine südamerikanischen Wurzeln vergessen zu haben“. Selbst die Stars zeigten sich erschreckend fantasielos und konfus. Außerdem sei nicht ganz klar, welches Konzept die Brasilianer verfolgten – ein Seitenhieb auf den glücklosen Kollegen Luiz Felipe Scolari, dessen Stuhl bereits wackelt. Warum er sich mit Bayern München um die Freigabe des verletzten Giovane Elber stritt, aber den zuletzt grandios auftrumpfenden Altstar Romário links liegen ließ, blieb das Geheimnis des Nationaltrainers. Aus seiner Zeit als Aktiver hat Scolari eine schlichte Defensiv-Philosophie mitgebracht. Seine hemdsärmelige Art verschaffte dem Schnauzbart bei der Fangemeinde zwar lange Zeit einen Bonus, doch sportlich hat er eben auch nicht mehr vorzuweisen als seine krawattentragenden Vorgänger Luxemburgo und Leão.

Das Durcheinander auf dem Rasen geht mit Chaos im Fußballverband CBF einher. Präsident Ricardo Teixeira ist krank geschrieben. Sein Herzleiden verbietet es ihm zwar, vor dem einschlägigen Untersuchungsausschuss im Senat auszusagen, nicht aber, seine Schützlinge in die bolivianische Höhenluft zu begleiten. Zwei Parlamentsausschüsse haben allerhand unappetitliche Details über Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Devisenschmuggel und lukrative Sponsorenverträge ans Tageslicht befördert. Doch letztlich verhindert ein Kartell konservativer Provinzfürsten mit Faible fürs Fußballgeschäft ein hartes Durchgreifen im Korruptionssumpf. Da mag die Presse noch so ausführlich über mafiöse Verzweigungen zwischen Fußball, Politik und Kommerz berichten – ändern tut sich wenig.

Seit dem WM-Finale 1994 bestritt die Nationalelf 137 offizielle Länderspiele – 34 mehr als Deutschland, 56 mehr als England. Pro Jahr darf der Sponsor Nike fünf Freundschaftsspiele ansetzen. So werden die bereits durch den übervollen Terminkalender ihrer Clubs ausgelaugten Spieler zusätzlich beansprucht. Als Menetekel kann das Schicksal von Inter-Star Ronaldo gelten, der seit anderthalb Jahren außer Gefecht ist.

Sollte sich Brasilien nicht für die WM qualifizieren, sei das „schlimmer als jede Wirtschaftskrise“, unkte kürzlich Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso. Das Undenkbare ist denkbar geworden.

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