Die Peinlichkeitsverdichtung namens Leben

Flaneur müsste man sein: Der Erzähler Wilhelm Genazino begleitet einen Schuhtester auf seinem nachmittäglichen bunten Treiben in Frankfurt. Von „erwiesener Geringfügigkeit“ ist dabei die Rede. Doch am Ende siegen Kontemplation und Humor – der Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“

von WERNER JUNG

Es gibt gute Gründe dafür, in den Prosatexten Wilhelm Genazinos die (postmoderne) Wiederkehr des Flaneurs zu sehen: Unübersehbar sind die Bezüge auf die Tradition, auf Robert Walsers Petitessen und Alltagsnotizen, auf Franz Hessels Beobachtungen am und vom Wegrand der Metropolen, auf den – freilich anders gelagerten – Spürsinn eines Hans Fallada fürs Banale.

Wilhelm Genazinos Aufmerksamkeitsrichtung folgt jenen Niederungen, auf die der gewöhnliche Blick zwar auch trifft, wovon sich dieser aber indigniert abwendet. Das konnte man schon in Genazinos „Abschaffel“-Trilogie vom Ende der 70er-Jahre – einem der in meinen Augen bedeutendsten Romane aus der letzten Phase der so genannten neuen Subjektivität – erkennen, und das zieht sich leitmotivisch seit Texten wie „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ (1989) über „Die Obdachlosigkeit der Fische“ (1994) bis zu „Die Kassiererinnen“ (1998) durch. Oftmals sind Personen wie Geschichten austauschbar – denn: Um sie geht es eigentlich gar nicht oder, sagen wir besser, nicht mehr. Der einzelne Teil, das Detail, der Blick darauf, mithin: Wahrnehmung und Beschreibung stehen im Mittelpunkt. Die Episode dominiert die Konstruktion dessen, was irritierenderweise immer noch als Roman bezeichnet wird.

So auch wieder Genazinos diesjähriges Buch. Freilich kommt jetzt noch eine weitere Dimension ins Spiel, die in dieser Form den Vorgängern weitgehend gefehlt hat: ein subtiler Humor, der – man weiß eigentlich gar nicht so genau, wie – zwischen Komik und Tragik oszilliert. Oder ist es etwa nicht grotesk, wenn der Protagonist, ein namenloser Flaneur und Schuhtester in Frankfurts Innenstadt, frühnachmittäglichen Beischlaf mit der Friseuse Margot in deren Salon im Anschluss ans Haareschneiden zu treiben versucht, wobei ihn beglückende Gedanken angesichts eines geplanten „Kurses für Gedächtniskunst“ befallen? Oder aber auch die Vorstellung, wie ihn „beim Hinausgleiten“ der Schamlippen von Susanne, jener Angestellten aus einer Anwaltskanzlei, „genau in diesen Augenblicken“ Himmelbach, der gescheiterte und gestrandete Fotograf, einfallen will: „Ich küsse Susannes Geschlecht länger als vorgesehen. Die Überzeit gilt der Wiederaustreibung Himmelbachs aus meinem Bewußtsein.“

Man muss Genazinos Helden nicht unbedingt mögen, um doch die ihnen beigegebenen Formulierungen und Beobachtungen für überaus gelungen zu halten, wenn da etwa von einem „verflusten Leben“ die Rede ist oder von einer Leidenschaft der „Verschwindsucht“, wenn das Leben eine fortgesetzte „Peinlichkeitsverdichtung“ genannt wird oder eine andere Zufallsbekanntschaft, Frau Balkhausen, dem Erzähler ihren Ekel vor dem „Erlebnisproletariat“ kundtut. Schließlich gibt es noch jene Anstreichsätze, die erste Anwartschaft auf die Aufnahme in künftige Neuausgaben der geflügelten Worte Büchmanns tragen: „Wie wärs mit einer Trennung vom Leben (. . .) wegen erwiesener Geringfügigkeit?“ Wenn sich dazu noch Sätze fügen wie: „Ich warte nicht mehr darauf, daß die äußere Welt endlich zu meinen inneren Texten paßt!“, dann wissen wir allerspätestens jetzt, dass wir nicht nur einen Philosophen von höchsten Gnaden vor den Leseraugen haben, nämlich einen solchen der Lebenskunst, sondern auch, dass ihm die Rettung gelungen ist, dass die vormalige, geschilderte Unbill des Lebens – seine Frau Lisa hat ihn verlassen, und seinen Job ist er auch los – nicht gar so dramatisch gewesen sein mag. Alles läuft wieder, im Übrigen mit Susanne als neuer Geliebter, in geordneten Bahnen, wenn es gelingt, die Dinge anders anzusehen, unaufgeregter gleichsam und wohl auch mit eigener innerer Genehmigung, die dem Erzähler zu Beginn des Textes noch gefehlt hat.

Also: ein Sieg der Kontemplation, zugleich einer des Humors, in objektiver wie subjektiver Hinsicht, denn der Erzähler vermag am Ende sich mit Gelassenheit und Distanz über das (H)Erdentreiben zu erheben. Er erkennt sich in einem zufällig auf einem Balkon entdeckten etwa zwölfjährigen Jungen wieder, der sich dort aus Wolldecken eine Höhle gebaut hat und flüchtig auf das Gewühle des Marktplatzes herunterschaut: „Einmal öffnet er den Sehschlitz eine Handbreit und setzt an zu einem längeren Rundblick auf die wogenden und lärmenden Massen. Es ist ein mißtrauischer, geretteter Blick, der mein eigener sein könnte.“ Ach so ist das!

Wilhelm Genazino: „Ein Regenschirm für diesen Tag“. Hanser Verlag, München 2001, 173 Seiten, 34,99 DM